Ukraine

"Wir müssen blutig ausbaden, was unser Staat nicht geleistet hat"

28. Februar 2022
Tino Schlench

Es fehle ein ukrainisches Narrativ: Die Literaturwissenschaftlerin Oxana Matiychuk bezeichnet es als fatalen Fehler, dass ihr Land Übersetzungen ukrainischer Literatur zu wenig gefördert habe. Dadurch wisse der Westen zu wenig über das Land - während Russland stark gehört werde. Ein Interview unter schwierigen Bedingungen.

Oxana Matiychuk ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für ausländische Literaturgeschichte, Literaturtheorie und slawische Philologie an der Universität Tscherniwzi. Zudem ist sie Mitbegründerin und Leiterin des Kultur- und Wissenschaftszentrums „Gedankendach“, das drei Organisationen unter sich vereint: die „Ukrainisch-deutsche Kulturgesellschaft“, das „Zentrum für deutschsprachige Studien“ und das Lektorat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD).

Das Gespräch wurde am Vormittag des 26. Februars geführt, zwei Tage nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine. Die Stadt Tscherniwzi (Czernowitz) liegt in der westlichen Ukraine.

Liebe Oxana Martiychuk, ich möchte mit der wichtigsten Frage beginnen: Wie geht es Ihnen momentan in Tscherniwzi?
In der Stadt ist es ruhig. Demnächst werden viele Flüchtlinge bei uns ankommen, die meisten aus Kiew. Aktuell ist es am wichtigsten, diese Menschen unterzubringen. Ich kenne Familien, die bereits Geflüchtete aufgenommen haben; auch in meiner eigenen Wohnung in der Innenstadt ist jemand untergebracht. Man bemüht sich um Normalität, aber natürlich verfolgen wir alle, was in anderen Regionen des Landes geschieht. Wir stehen alle unter Strom und die Anspannung lässt nur selten nach. Ich nehme an, es geht sämtlichen Bürgerinnen und Bürgern dieses Staates, die sich als solche verstehen, ähnlich wie mir.

Ein Text von Ihnen, der kurz vor dem Angriff der russischen Truppen in der SZ erschienen ist, trägt den Titel „Wir bleiben“. Hat sich an dieser Haltung in den letzten Tagen etwas geändert? Verlassen viele Menschen den Ort oder bleiben die meisten in der Stadt?
Darüber lassen sich kaum allgemeine Aussagen treffen. Einige Freunde sind ausgereist, andere haben ihre Kinder an die rumänische Grenze gebracht und dort Bekannten oder Verwandten übergeben, sind aber selbst in der Ukraine geblieben. Eine Besonderheit in unserer Region Bukowina besteht darin, dass viele Menschen einen rumänischen Pass besitzen und diesen jetzt zur Ausreise nutzen. Gleichzeitig bereiten sich auch Ortschaften, die mehrheitlich rumänisch sind, auf die Ankunft von Flüchtlingen vor.

 

Sie arbeiten an der Universität. Finden aktuell noch Veranstaltungen statt? Wie gehen ihre Studierenden mit der gegenwärtigen Situation um? Viele junge Männer werden demnächst vermutlich eingezogen.
Bis gestern fanden noch Veranstaltungen statt. Mittlerweile gibt es jedoch eine Empfehlung des Bildungsministeriums, den Unterricht für die nächsten zwei Wochen auszusetzen. Ich gehe davon aus, dass dieser Empfehlung nachgekommen wird. Unter den Studierenden sind viele bereit, sofort an die Front zu gehen. Andere können sich kaum vorstellen, zur Waffe zu greifen, oder haben das Land bereits verlassen. Dies ist durch die allgemeine Mobilmachung für Männer im Alter von 18 bis 55 Jahren aber nicht mehr ohne weiteres möglich.

Unserem Staat es nicht gelungen, durch Kultur- und Außenpolitik ein ukrainisches Narrativ zu schaffen. Nur wenige Menschen im Ausland wissen um unsere Situation. Russland hingegen ist laut hörbar.

Oxana Matiychuk

Die Beziehungen zu Russland sind seit vielen Jahren schlecht: Die Krim wurde annektiert, seit acht Jahren gibt es einen Krieg in der Ostukraine. Wie erklären Sie sich, dass die Gefahr, die von Putin ausgeht, im Westen Europas so lange unterschätzt wurde?
Der Westen, so es diesen überhaupt gibt, denkt einfach nicht in denselben Kategorien wie Russland. Insofern versteht man sich auch nicht, selbst wenn man im Westen das Gefühl hat, man würde einen Dialog führen. Ich selbst wurde in der Sowjet-Zeit sozialisiert. Die russische Propaganda ist nichts anderes als die sowjetische, nur viel schlimmer, weil die Russen nichts mehr zu verlieren haben. Diese Frechheit, diese Verlogenheit, diese perfide Fassade stellt die sowjetische Propaganda völlig in den Schatten. Unserem Staat es nicht gelungen, durch Kultur- und Außenpolitik ein ukrainisches Narrativ zu schaffen. Nur wenige Menschen im Ausland wissen um unsere Situation. Russland hingegen ist laut hörbar. Sie wissen ja, welche Medien in jedem europäischen Land vertreten sind. Wir müssen jetzt das blutig ausbaden, was unser Staat nicht geleistet hat.

Der Literatur wird zugesprochen, die Empathie zu schulen und den eigenen Horizont zu erweitern. Können Sie Werke empfehlen, die uns die Ukraine näherbringen?
Die gibt es gewiss, doch auf Deutsch oder Englisch ist davon leider zu wenig verfügbar. Natürlich kennt man Autor:innen wie Andreas Kappeler, Timothy Snyder oder Anne Applebaum, die über die Ukraine schreiben. Doch unser Land hat sich insgesamt zu wenig für Übersetzungen und deren Verbreitung engagiert. Das war ein fataler Fehler. Immerhin gibt es einige Schriftsteller:innen wie Serhij Zhadan (deutsch bei Suhrkamp), Jurij Wynnytschuk oder Maria Matios (beide in deutscher Übersetzung bei Haymon), deren Stimme im Ausland gehört wird. Das ist momentan sehr wichtig.

Wie kann man die Menschen in der Ukraine jetzt am besten unterstützen?
Nach der ersten Schockstarre haben wir vom Zentrum Gedankendach eine Spendenaktion gestartet. Ganz gleich, wie lang dieser Krieg andauert wird, benötigen wir Geld, um uns um die Geflüchteten, Dinge des täglichen Bedarfs und um Unterkünfte zu kümmern. Unsere Partnereinrichtung in München, das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas, hat hierfür ein Spendenkonto eingerichtet. Viel mehr als spenden und den Flüchtlingen zu helfen, kann man jetzt nicht tun. Wer eine Spende für angemessen hält, dem möchte ich sagen, dass diese bei uns in guten Händen ist. Es wird sehr viel Bedarf geben, wenn nicht hier in der Region, dann in anderen Teilen des Landes.

Liebe Oxana Matiychuk, ganz lieben Dank, dass wir uns heute unterhalten konnten.
Ich danke Ihnen für Ihr Interesse. Das ist sehr wichtig.

 

Über das Zentrum Gedankendach

Das Zentrum Gedankendach (der Name geht auf ein Gedicht von Rose Ausländer zurück) wurde 2009 gegründet und ist an der Jurij-Fedkowitsch-Universität Tscherniwzi angesiedelt.
Das Zentrum initiiert Kunst-, Kultur- und Bildungsprojekte, unterstützt die kreative Szene vor Ort und fördert die Zusammenarbeit mit Künstlern und Wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum. Das Zentrum engagiert sich für den internationalen Jugendaustausch durch die Einladung deutschsprachiger Wissenschaftler:innen, Kulturmittler:innen und Künstler:innen. Sommerschulen bringen junge Leute aus Deutschland und der Ukraine zusammen.

Über den Autor

Tino Schlench ist Buchblogger (www.literaturpalast.at) und hat sich auf osteuropäische Literatur spezialisiert. Er lebt in Wien und ist Mitarbeiter im Buchverlag TEXT/RAHMEN. Schlench wurde 2020 mit dem Buchblog-Award und 2021 mit dem Young Excellence Award, den das Börsenblatt vergibt, ausgezeichnet.
Im Rahmen eines Stipendiums verbrachte er im Sommer 2021 vier Wochen im ukrainischen Tscherniwzi.