Als David Grossman 2010 zum Friedenspreisträger gewählt wird – "Was für eine schöne Nachricht!" –, entscheidet er sich, erstmals nach Jahren seines durch Esterházys Rede ausgelösten Boykotts an der Preisverleihung teilzunehmen. Geholfen hat dabei sicher auch ein langes Interview, das Niels Beintker und ich 2009 mit ihm führen, um es in dem Band "Widerreden. 60 Jahre Friedenspreis des Deutschen Buchhandels" zu veröffentlichen. Hierin geht es um seine eigene Friedenspreisverleihung, die deutsch-französische Aussöhnung, seine Kritik an Israel in Bezug auf die Palästinenser*innen und sein unbedingter Wunsch, man möge bitte alle ernst gemeinten Meinungen anhören, selbst wenn man sie nicht teilt. Deswegen besteht er auch darauf, dass das Interview nur mit dem folgenden Absatz veröffentlicht werden darf:
"Seit zwei, drei Jahren schlage ich Daniel Barenboim vor. Hätte dieser oder ein anderer Mutiger den diesjährigen Preis erhalten, so würde ich in der Paulskirche sitzen. […] Einmal hatte ich übrigens schon Glück mit einem Vorschlag: bei Yehudi Menuhin, der 1979 mit dem Friedenspreis geehrt wurde. Menuhin hat sich nach 1945 für die Vertriebenen eingesetzt. Ebenso für die gerechte Verteidigung von Wilhelm Furtwängler und für vieles andere mehr. In einem Artikel in der Zeit stand dann, dass 'ein Fiedler' den Preis bekommen habe. Das hat mich sehr empört."
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Ein paar Wochen vor der Friedenspreisverleihung 2018 an Aleida und Jan Assmann schreibt er mir: "Nach Sturz und Krankenhaus bin ich noch müde, aber bis Oktober wieder fit (obwohl es zwei Gekrönte gibt!)." Sensibilisiert durch die zahllosen Briefe, E-Mails, Telefonate und Gespräche nehme ich den Klammersatz ernster, als er gemeint ist.
"War doch nur ein Witz", entgegnet er auf Nachfrage, als er tatsächlich gemeinsam mit seiner Frau Annie nach Frankfurt kommt. Noch gezeichnet vom Unfall und früheren Operationen, genießt er die Aufmerksamkeit, die ihm, dem damals 93jährigen, an dem Tag zuteilwird, und lässt sich von mir nach der Verleihung zum Taxi bringen. Es sei das letzte Mal gewesen, sagt er und fasst mich am Arm. "Von jetzt an müssen Sie ohne mich auskommen."
Ich lache, doch tatsächlich habe ich danach nie wieder eine E-Mail oder einen Brief bekommen. Dabei hätte ich gerne gewusst, was er über Sebastião Salgado, Amartya Sen, Tsitsi Dangarembga, Serhij Zhadan oder Salman Rushdie zu sagen gehabt hätte. Haben sie es gut gemacht? Hat der Stiftungsrat richtig entschieden? Wahrscheinlich hätte er mich jedes Mal auf das fehlende Wort Frieden hingewiesen (was nicht passiert wäre, denn seit 2004 achte ich darauf) oder irgendeine andere Bemerkung gemacht.
Nun ist er gestorben. Ich werde seine bissigen Kommentare genauso vermissen wie sein spitzbübisches Lachen – ein Kichern, das immer dann seinem Mund entweicht, wenn er merkt, dass sein Gegenüber ihn entweder zu ernst nimmt oder diesem ein Licht aufgeht.
"Es ist eine Freude, zu leben!", sagt er bei unserem Interviewtermin 2009. "Aber der Tod – für mich mein völliges, endgültiges Ende – wäre völlig normal. Wenn ich eines Tages sterbe, dann ist das keine Katastrophe."
Nachrufe über seine große und wichtige Bedeutung für Deutschland und Frankreich sollen andere schreiben. Für mich bleibt er der Nestor des Friedenspreises, wohlwollend und besorgt.
Danke, Alfred, danke, aber dennoch!
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Martin Schult ist Leiter der Geschäftsstelle Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Weitere Informationen zum Friedenspreis 1975 an Alfred Grosser finden Sie: hier