Ich zähle Frauen. Seit zehn Jahren; in Rezensionen von Medien, die das Etikett "intellektuell besonders wertvoll" verleihen, bei Preisen, auf Podien, in Programmen, in Lesungskalendern. Mein Vorbild sind die VIDA-Zählungen, die das Vorkommen von Autorinnen in 39 US-Feuilletons untersuchen. Die schlechte Nachricht vorab: Der deutsche Literaturbetrieb hat’s nicht so mit Frauen.
In den Dutzend Leitmedien meiner Zählung, wie "Welt", "Zeit", "SZ", "FAZ", "Spiegel" usw., wirken Frauen an 25 Prozent aller Rezensionen mit. Kritiken über Autorinnen finden zwischen zehn Prozent (häufigster Wert) und 24 Prozent (zu Buchmessezeiten) statt. In Unterhaltungsmedien wie "Brigitte" oder dem WDR steigt der Autorinnenanteil, erreicht aber selten Parität. In Literaturblogs liegt er, kumuliert, bei 19 Prozent (Blogger) und 40 Prozent (Bloggerinnen). Auffällig bleibt die testosterongefärbte Filterblase in den Feuilletons. In der "Welt" vom 1. November wurden "Elf Bücher, die du bis zu deinem 30sten Geburtstag gelesen haben solltest" kanonisiert. Alle von Männern, zehn der Romane kreisten um eine männliche Hauptfigur. Die "Bild" kanonisierte "25 wichtigste Romane" mit einem Frauenanteil von zwei, im Literatur Spezial zur Buchmesse der "Zeit" (Nr. 43/2016) waren unter den "20 wichtigsten Büchern" vier von Frauen.
Elena Ferrante sagte einmal: "Männer nehmen von Frauen geschriebene Bücher als Bücher für Frauen wahr." Ein Kritiker antwortete darauf: "Ein Frauenbuch ist ein Buch, das ich als Mann nicht verstehe." Liegt die Unwucht daran, dass in die Echokammer der Rezeption leichter Bücher von Männern dringen, weil die Themen den Rezensenten vertrauter, oder schlicht: wichtiger sind? Quasi aus der Unschuld der Sozialisation, einem unabsichtlich angewöhnten Desinteresse für die feminine Sicht auf die Welt (gilt auch für Kritikerinnen)? Mitunter ist es auch Feigheit vor dem Gefühl. Dieses tief sitzende Unbehagen, sich mit komplexer Emotionalität auseinanderzusetzen, die nicht distanziert und analytisch erzählt wird, sondern zu nah an der Seele ritzt, viel zu nah, Moment: Ist das nicht … Kitsch?
Oder beginnt das Aussortieren schon in der Programmplanung – wo häufig Frauen planen, aber Männer zahlen, und damit entscheiden? Die Vorschauen von E- und U-Verlagen zur Frankfurter Messe zeigen jedes Jahr: Je mehr E, desto weniger Frau. Das Verhältnis liegt oft bei drei Frauen zu zehn Männern. Autorinnen finden sich mehr in Genreformaten, die der Unterhaltung oder "Frauenliteratur" (Gedöns, anspruchslos, Untenrumkitsch – suchen Sie sich ein despektierliches Wort aus, diese Schublade ist seit Dekaden bestens geölt) zugeordnet sind, außerdem im Taschenbuch, gern mit Blümchen vorne drauf. Alles Feuilletongift. Männer werden häufiger im Hardcover veröffentlicht, etwa bei E-Edelverlagen wie Suhrkamp, Hanser, Aufbau. Das lieben die Kulturredaktionen. Und Buchhändler, die nicht zum Lesen kommen, stellen sich ihre Tische wiederum nach Kritiken zusammen – so wirkt auch auf Kaufende die "wichtige" Literatur eher männlich.
Sie können sich, sofern Frau, übrigens noch einen Schnaps bereitstellen. Es gibt 580 Literaturpreise in Deutschland, davon gelten 140 als "wichtig", zwei Dutzend als die Krönung des Schaffens. Ihre Jurys sind, kumuliert, zu 23 Prozent mit Frauen besetzt. Ich zählte die Gewinne der Krönungspreise seit jeweiligem Beginn der Verleihungen. Das Ergebnis: Männer gewinnen fünfmal häufiger. Ausnahme: der Deutsche Buchpreis. Und Prost!
Ich will Sie nicht weiter mit Zahlen traktieren; Sie ahnen, dass in den Akademien der Künste Frauen in der Sparte Literatur spärlich (20 %) vertreten sind; dass sie laut 50prozent. speakerinnen.org nur zu einem Viertel auf Expertenpodien sprechen, und, ach ja: laut Agentinnen wie Karin Graf geringere Vorschüsse angeboten bekommen.
Dennoch glaube ich nicht an eine grundsätzliche Misogynie des Feuilletons, der Juroren oder Verlagsleiter; einige unangenehme Zeitgenossen ausgenommen. Es ist auch die zur Biederkeit neigende Buchbranche, die, aus Gefalldrang, in die Klischeefalle tappt: Frauen dichten fürs Herz, Männer fürs Hirn.
Für mich liegen die Antworten auf die Frauenfrage auch NEBEN dem Literaturbetrieb. In der Erziehung, in der Auswahl von Lehrmaterialien, in der Gesellschaft, ihren Leit-Memen, und dem Rollback zur Rosa/Hellblau-Simplifizierung. Und: in den Hauptfiguren, die wir, die Autorinnen und Autoren, erschaffen. Welches Bild zeichnen wir denn von Frauen und Männern? Auch das wird, neben aufgeregten Debatten zu Quoten, zu hinterfragen sein.
Männer gewinnen im Schnitt fünfmal häufiger
• Der Georg-Büchner-Preis (50.000 €) ging 55 Mal an einen Mann, 9 Mal an eine Frau.
• Der Literaturnobelpreis ging 99 Mal an einen Mann, 14 Mal an eine Frau.
• Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (25.000 €): 57 Männer, 8 Frauen, 1 Paar, 1 Club
• Heinrich-Mann-Preis (8.000 €): 18 Männer, 4 Frauen
• Thomas-Mann-Preis (25.000 €): 18 Männer, 3 Frauen
• Horst-Bienek-Lyrikpreis: 23 Männer, 5 Frauen (Stand 2014)
• Konrad-Adenauer-Preis: 19 Männer, 5 Frauen
• Einhard-Preis für Biografien (10.000 €): 8 Männer, 2 Frauen
• Heinrich-Böll-Preis (20.000 €): 20 Männer, 5 Frauen
• Kleist-Preis (20.000 €): 20 Männer, 9 Frauen
• Jean-Paul-Preis (15.000 €): 17 Männer, 3 Frauen
• Deutscher Krimipreis: 26 Männer, 7 Frauen, 2 davon 2x, also 5 Frauen
• Kurt-Tucholsky-Preis (3.000./5.000 €): 12 Männer, 1 Frau
Es ist ja nun nicht so, dass man in der Buchbranche nur Männer vorfinden würde. Und selbst wenn es so sein sollte, dass halt die Männer die Entscheider sind und sich über all die Lektorinnen, die lieber Bücher von Frauen veröffentlichen würden, hinwegsetzen: Letztlich entscheidet doch, was von dem vielen Publizierten tatsächlich GEKAUFT wird. Alles andere wird wieder eingestampft, mag es noch hardbecovert oder buchbepreist sein, und wer allzu oft Bücher veröffentlicht, die niemand kaufen mag, wird irgendwann keine Bücher mehr veröffentlichen.
Und da, wie gesagt, 80% aller Bücher von Frauen gekauft werden, ist der Artikel doch wohl als Vorwurf an diese zu verstehen, oder?
diese Zahlen finden sich u.a. in der Studie zu Frauen in Kultur und Medien des Deutschen Kulturrates. Aus den Ergebnisse heraus hat sich der Runde Tisch bei Kulturstaatsministerin Monika Grütters gebildet. Sie finden das pdf samt 400 Seiten Statistik der letzten 25 Jahre (u.a. v. Gabriele Schulz und Olaf Zimmermann evaluiert) unter
https://www.kulturrat.de/wp-content/uploads/2016/12/Frauen-in-Kultur-und-Medien.pdf
Lieber @Markus Glass: ja, in dem Buch "Girls" findet sich vieles von dem wieder,was ich oft auch als (sehr) junge Frau empfand: der männliche Blick sagte mir, wer ich bin und was ich wert bin.
Das ist oft aber erst aus einer Retroperspektive so klar zu analyiseren. Danke jedenfalls für dieses Zitat, das ich sehr passend finde.
@Liebe Birte Vogel, spannend sind an Ihren Evaluationen auch die Unterschiede in der Sparte Sachbuch und Sachbuchpreise. Zählen wir weiter.
https://www.boersenblatt.net/artikel-buch_und_buchhandel_in_zahlen.373301.html
Gleichzeitig sind die meisten Bestseller-Autoren männlich.
"Im Untersuchungszeitraum wurden von den 20 meistverkauften Büchern mehr als sechzig Prozent von Männern verfasst und nur 39 Prozent von Frauen. Ein Blick auf die Top 100-Liste verschärft dieses Bild sogar noch. Danach gab es Jahre, in denen es nur 18 Prozent der von Frauen verfassten Titel auf die Bestenliste geschafft haben"
http://www.uni-stuttgart.de/hkom/presseservice/pressemitteilungen/2014/065_bestsellerforschung.html?__locale=en
Frage: Warum kaufen und Lesen die Frauen mehr Bücher von männlichen Autoren?
Dann trifft man immer wieder auf einen etwas seltsamen Egalitarismus bei der Frage nach der Vergabe von Preisen. Am gerechtesten wäre es also, wenn genau gleich viele weibliche und männliche Autoren ausgezeichnet würden? Wenn also aus kontingenten Gründen in einem Jahrgang die Bücher der Männer insgesamt qualitativer waren als die der Frauen (vielleicht gibt auch es mehr männliche Autoren? Kulturell sind die Gründe komplex), wäre die ungleiche Verteilung der Literaturpreise unter den Geschlechtern eine Ungerechtigkeit? Aber preiswürdig ist doch, wer die beste Leistung erbracht hat, und nicht, was zu einer gleichmäßigen Verteilung von Preisen führt. Man sieht hier, wie die ursprünglich hellenische Wettbewerbskultur mit der egalitären Ethik moderner Gerechtigkeitsvorstellungen kollidiert.
es ist so wichtig, dass Sie Fakten zusammentragen. Sonst bliebe es ja "nur "ein Gefühl. Und damit typisch Frau, nicht wahr? Ein schönes Recherchefeld zum Thema wäre auch die Leseförderung. Also das Bemühen, möglichst viele Menschen zu befähigen, mehr als Twitter lesen zu können. Ich würde sagen (auch ein Feld für genaue Zahlen;-)) die Leseförderung ist zu 99,5 % Prozent in Frauenhand. Hm. Irgendwas stimmt also vorn und hinten nicht. Was ich übrigens grad (wieder) lese: Hannah Arendt. Vita activa oder Vom tätigen Leben. Darin u.a. gut ausgeführt: Was wirksam werden soll, muss Öffentlichkeit erhalten. Danke, Frau George.
Die Beherrschten tragen zur Reproduktion der Verhältnisse bei, weil ihre Wahrnehmungs- , Denk- und Erkenntnisschemata geprägt sind vom Herrschaftssystem selbst - vergleichbar mit sog. "uncle Toms" bei früheren Generationen v. Afroamerikanern.
Mir sagte heute ein Rezensent, er würde sich ja bemühen, Schriftstellerinnen in der schier unüberschaubaren Buchwelt der Verlage zu finden. Aber...
Ist das nicht süß?
Der (scheinbare) Unterschied zwischen solchen Buchpreisen und dem Umstand, dass soviel mehr Frauen Bücher kaufen und lesen, liegt er nicht darin begründet, dass eben nicht die Leser und Leserinnen sondern eben (meist) mehrheitlich männlich besetzte Jurys von männlich dominierten Verlagsleitungen besonders wertig produzierte und als solche kommunizierte Bücher auswählen?
Diesen Jurys wären hohe Verkaufszahlen und viele weibliche Jubelmeinungen in Blogs und amazon eher suspekt als Hinweis auf besondere Qualität.
Schließlich bräuchte man keine Jurys mehr, wenn Preisträger so leicht an der Begeisterung der Lesermasse zu erkennen wären.