Lob der Generalist:innen
Sich auf ein enges, klar umrissenes Themenfeld zu spezialisieren und damit eine Nische zu besetzen – das kann ein Vorteil sein. Unter Umständen aber ist es viel klüger, das eigene Potenzial in voller Breite abzurufen.
Sich auf ein enges, klar umrissenes Themenfeld zu spezialisieren und damit eine Nische zu besetzen – das kann ein Vorteil sein. Unter Umständen aber ist es viel klüger, das eigene Potenzial in voller Breite abzurufen.
»Erzähl mal, was machst du so und welche Nische kannst du bedienen?« Als mich das vor vielen Jahren ein junger Businesstyp fragte, war ich für einen langen Moment sprachlos. Nische? Ich und Nische? Ich bin die mit zu vielen Interessen, zu vielen Hobbys … Ich hatte jedenfalls keinen Elevator-Pitch parat. Heute hat sich das geändert – als Selbstständige habe ich mir zurechtgelegt, in aller Kürze sagen zu können, was ich tue. Aber ich habe dann nicht das Gefühl, alles Wichtige untergebracht zu haben. Geht Ihnen das auch so? Dann sind Sie vielleicht auch Generalist:in und kein:e Spezialist:in.
Heute, wo wir ein Überangebot und permanente Onlineverfügbarkeit aller denkbaren Dienstleistungen und Waren haben, ist es grundsätzlich gut, eine ganz schmale Nische zu finden und diese perfekt zu bedienen. Damit hat man ein Alleinstellungsmerkmal, eine leicht zu definierende Zielgruppe und kann sich mit allen Erfolgsaffirmationen ganz darauf ausrichten. Ich habe Menschen schon immer beneidet, die von Klein auf wissen, wofür ihr Herz schlägt, die alles daransetzen, das zu erreichen, und sich in ihrem Lieblingsthema weiterbilden – und zwar ausschließlich da. Das ist, davon bin ich überzeugt, ein sicherer Weg zum Erfolg.
Doch versetzen wir diesen Fall mal in die Buchbranche und führen ihn ein wenig ad absurdum: Angenommen, jemand fertigt ausschließlich Tusche-Illustrationen an, und zwar für Kinderbücher mit der Altersangabe drei bis fünf, in denen es um Igelfamilien geht. Zauberhafte Idee. Aber damit überleben? Niemals. Nische also schön und gut – aber in einem Sektor, in dem es oft mehr Angebot als Nachfrage gibt, eher ungünstig. Da empfiehlt es sich doch, neben der Kernkompetenz noch andere Bereiche abzudecken, einfach um genug Aufträge an Land ziehen zu können, um Arbeit zu finden, vor allem, wenn man noch nicht weltbekannt ist für genau diese eine mikroskopisch kleine Nische.
Auch die vielseitig Interessierten haben ihre Daseinsberechtigung. Sie schauen gern nach rechts und links, haben mehrere Lieblingsthemen, einige interessante Hobbys, vielleicht sogar mehrere Jobs. Wenn sich eine Tür öffnet, gehen wir Generalist:innen hindurch. Früher gab es noch Universalgenies, was heute undenkbar ist; wir verfügen im wahrsten Sinne des Wortes über unfassbar viel Wissen. Aber eine passable Allgemeinbildung, breit gestreute Talente, die Lust, Neues auszuprobieren, etwas Anfängerglück dazu – damit lebt es sich ganz abwechslungsreich.
Warum soll man sich auch künstlich reduzieren und Ideen und Potenzial versanden lassen? Es ergeben sich doch immer sich befruchtende Wechselwirkungen: Dank Interesse C und Hobby D ist jemand in der Lage, in den Tätigkeiten A und B hervorzustechen und Unvergleichliches zu leisten. Nicht umsonst wird bei vorbildlicher New-Work-Umsetzung auch auf scheinbar abseitige Kompetenzen Wert gelegt. Es liegt doch auf der Hand: Wer sich für vieles begeistert und begeistern lässt, bringt mit Sicherheit auch in der Haupttätigkeit eine Offenheit, Flexibilität und Lernfähigkeit mit, die am Ende alle bereichert.