Austeilen per definitionem
Wer austeilt, ohne einstecken zu können – der macht sich garantiert unbeliebt. Das Lektorat bewegt sich schon durch seine Jobbeschreibung auf der Austeil-Seite. Wie sich Kritik am Text sozialverträglich verpacken lässt.
Wer austeilt, ohne einstecken zu können – der macht sich garantiert unbeliebt. Das Lektorat bewegt sich schon durch seine Jobbeschreibung auf der Austeil-Seite. Wie sich Kritik am Text sozialverträglich verpacken lässt.
Ich schätze, jede:r von uns kennt so einen unangenehmen Mitmenschen, so eine Person A, die permanent austeilt. Im Privatleben ist das schwierig genug. Und im beruflichen Umfeld gibt es durch unterschiedliche Tätigkeitsbereiche Konstellationen, in denen sowieso schon ein Ungleichgewicht herrscht: Im Lektorat zum Beispiel befinden wir uns per se auf der Austeil-Seite, und Autor:innen müssen viel einstecken können.
Oft genug habe ich gehört: »Keine Kritik ist auch Lob.« Wie bitte? Diese Aussage erinnert an militärische Zustände und zeugt von einem Umgang, den ich arrogant und unmenschlich finde. Da wir im Lektorat per definitionem gezwungen sind, zu kritisieren, kann diese Formel nicht aufgehen: Jedes nicht markierte Wort, jede unkommentierte Passage ist also in Ordnung? So funktioniert das psychologisch nicht. Gute Zusammenarbeit ist so nicht möglich, und die sollte ja unser Ziel sein.
Unsere Aufgabe ist es, diese Schieflage ein wenig auszugleichen, dem erhobenen Zeigefinger etwas entgegenzusetzen und unsere Position zu stärken. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass wir vorauseilend einlenken – also für eine positive Grundstimmung sorgen – sollten. Schreiben wir doch einfach mal ein Lob nieder. Auch dafür kann die Kommentarspalte in Word bestens genutzt werden. Außerdem für Korrekturen, die kein Muss sind, bei denen wir kompromissbereit sind und das auch entsprechend formulieren: »Was halten Sie davon, wenn wir hier einen anderen Dreh wagen?« oder »Eine Idee: Es würde noch mehr Spannung in die Szene bringen, wenn …«. Die Wahrscheinlichkeit, dass an anderer Stelle die »harten« Korrekturen dann angenommen werden, steigt automatisch – versprochen.
Missstimmungen und Konflikte sollten wir im Vorfeld vermeiden, gesprächsbereit sein und bleiben, Telefonate führen, nahbar sein. Gehen wir in den Dialog mit Schriftstellenden, erarbeiten wir Dinge gemeinsam. Nur so ist ein erwachsener, menschlicher Umgang miteinander möglich.
Mitnichten. Eine »End-Gültigkeit« gibt es bei Texten nicht. Und eine Hoheit des Lektorats erst recht nicht. Vieles ist Geschmackssache; die Kolleginnen hätten vermutlich in vielen Punkten andere Vorschläge gemacht – da sollten wir auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Lektor:innen sind eben auch nicht unfehlbar, auch wenn sie diese Aura gern mal zu ihrem Vorteil nutzen und damit ein gewisses Image pflegen.
Fehler passieren überall. Sogar Menschen, deren Beruf darin besteht, auf Fehler hinzuweisen und diese zu beseitigen. Dadurch wird die Handhabung eigener Fehler automatisch beispielhaft; wir werden ganz genau dabei beobachtet, wie wir reagieren. Deshalb sollten wir noch gewissenhafter als andere an unserer eigenen Kritikfähigkeit arbeiten: Fehler ansprechen, zugeben, versuchen, die Gründe dafür zu verstehen, Vermeidungsstrategien überlegen und diese auch kommunizieren. Nehmerqualität beweisen und Kritik einstecken – um ein andermal austeilen zu dürfen.
Veronika Weiss (37) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.