Die Sonntagsfrage

"Provokation als Geschäftsmodell" - was waren die Highlights, Frau Munsberg?

2. Juli 2023
Redaktion Börsenblatt

Ein Konferenztag zum Thema "Provokation als Geschäftsmodell" eröffnete in diesem Jahr das Literaturfestival LIT:potsdam. Christiane Munsberg, die neben Klaus Kluge Kuratorin dieses Branchenevents war, erzählt in der Sonntagsfrage, wie die beiden den Tag konzipiert haben, ob ihre Ziele aufgegangen sind und welche Diskussionshighlights es gab.

Christiane Munsberg

Christiane Munsberg

Hat alles so geklappt, wie Sie es sich vorgestellt haben?

Die Buch- und Medienbranche steht massiv unter Druck, weil sie Kosten sparen muss. Dabei helfen KI-Systeme, die große Datenmengen verarbeiten, komplexe Fragen analysieren können und  damit Freiräume für konzeptionelles und kreatives Arbeiten schaffen. Mit der generativen KI, die Texte, Bilder und Videos erzeugt, kam der nächste Quantensprung. Seit November 2022 kann z. B. jede:r mit dem Chatbot ChatGPT ein solches System testen. Was zunächst wie ein lustiges Spiel wirkte, wurde spätestens am 19. Juni 2023 für die Arbeitswelt konkret, als Springer-Chef Mathias Döpfner verkündete, er wolle bei der BILD-Zeitung massiv Personal abbauen, weil KI diese Tätigkeiten demnächst effizienter ausführen werde. Zu diesen Entwicklungen wollten wir in einer entspannten Atmosphäre einen abwechslungsreichen Tag mit verschiedenen Formaten (wie Panels, Referaten und Diskussionen) anbieten. Gleichzeitig wollten wir von Journalist:innen und Branchenvertreter:innen erfahren, welche Themen sie bewegen, welche Lösungsansätze sie praktizieren und darüber diskutieren. Da es nach der Veranstaltung ein sehr begeistertes Feedback gab, gehen wir davon aus, dass unser Plan gelungen ist.

Wie viele Gäste waren da und wie war die Resonanz aus dem Publikum?

Angemeldet hatten sich über 100 Gäste, gekommen sind ungefähr 70 Personen – es war Regen angekündigt. Da der Konferenztag open air im wunderschönen Park der Villa stattfand, hat die Wettervorhersage vermutlich einige Menschen davon abgehalten, nach Potsdam zu fahren. Das Wetter hat dann auch eine gewisse Mobilität in das Tagungsprogramm gebracht: vom Garten in die Cafeteria und zurück. Dank einer hervorragenden Regen-App konnten wir zum Schluss die Pausen minutengenau planen. Auch das ist KI.

Was waren die Top-Acts?

Im Mittelpunkt standen die beiden Diskussionsrunden. Im ersten Panel diskutierten Livia Gerster, Politikredakteurin bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Knud Cordsen, Literaturkritiker und Moderator beim Bayerischen Rundfunk, und Daniel Schulz, der aktuell für die taz aus der Ukraine berichtet. Da alle Podiumsgäste für renommierte Medien arbeiten, war es nicht verwunderlich, dass sie sich bei der Frage „Glaubwürdigkeit als neue Währung?“ einig waren: Qualitätsjournalismus zeichne sich durch valide Fakten und sorgfältige Recherche aus. Schnelligkeit und Effekte brächten zwar mehr Klicks und generierten auch mehr Abos, sie seien aber nicht das Wichtigste. Als Gegenbeispiel wurde auf die preisgekrönten Reporter Tom Kummer und Claas Relotius verwiesen. Beide hatten Promi-Interviews und Reportagen aus vorhandenem Material neu zusammengesetzt oder gleich ganz erfunden und damit jeweils einen Medienskandal ausgelöst. Die Journalist:innen wiesen aber darauf hin, dass man Kummer und Relotius nicht allein für den Schaden verantwortlich machen dürfe. Zum einen sei das Ressort in der Pflicht gewesen. Und die Redaktionsleitungen und Preisjurys müssten gefragt werden, wie Arbeitsaufträge verteilt wurden, was der Anspruch war und wie mit Konkurrenz umgegangen wurde.

Im zweiten Panel zur Frage „Was darf Literatur, was soll man canceln?“ schlugen die Wellen höher. Mit der Verlegerin Annette Michael, der Buchhändlerin Lilly Ludwig und dem Kolumnisten Harald Martenstein diskutierte ein heterogenes Terzett darüber, ob man beispielsweise Bücher ohne Trigger-Warnungen verkaufen könne (Lilly Ludwig: nein), wie Übersetzer:innen mit englischsprachigen Begriffen im Kontext von Rassismus und Kolonialismus umgehen, für die es keine deutsche Entsprechungen gebe, weil die Themen noch nicht in den hiesigen Diskurs eingegangen sind. Harald Martenstein stellte am Beispiel des Klassikers Huckleberry Finn die N-Frage in Bezug auf das Urheberrecht des Autors – verweis aber darauf, dass Marc Twain als Person des Rassismus unverdächtig sei – selbst wenn seine Romane ausschließlich aus einer weißen Perspektive erzählt sind. Die Verlegerin und die Buchhändlerin forderten dagegen, dass Sprache sich sensibel heutigen Konventionen anpassen müsse, sie dürfe niemanden verletzen. Das letzte Wort läge immer auf Seiten der Opfer.  

Was waren für Sie die Zitate des Tages?

„Meinungsfreiheit im Allgemeinen und Pressefreiheit im Besonderen sowie die komplexe Wechselbeziehung zwischen Wahrheit, Vertrauen, Politik und Expertise sind für die Demokratie von zentraler, ja sogar entscheidender Bedeutung. Medien sind Verbindungspunkte zwischen der breiten Öffentlichkeit und den politischen Entscheidungsträgern.“ Christian Ehler, Gastgeber und Mitglied des Europäischen Parlaments

 „Aus den Filterblasen des Web 2.0, also der vergangen zehn Jahre, in denen im Internet die sozialen Medien dominierten, werden mit der KI Feedbackschleifen. Da wird in den Gedankengebäuden der Nutzer nur noch wenig von außen kommen.“ Andrian Kreye, Keynote-Sprecher und Leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung (Spezialgebiet: Kultur, digitale Märkte und Künstliche Intelligenz)

„Wir brauchen die Vorstellungskraft der Künste in Kooperation mit den Wissenschaften, mit Politik und Wirtschaft, um die Würde des Menschen und die Würde der Natur zu bewahren und zu einer neuen Art von Zukunftskultur zu verbinden.“ Denise Quistorp, Direktorin des Österreichischen Kulturforums Berlin und Präsidentin von EUNIC (EU National Institutes for Culture), Berlin

Wenn die Sprache Europas die Übersetzung ist, wie Umberto Eco sagte, dann hat Europa dank fortschrittlicher KI-gestützter Übersetzungsprogramme die Chance, in ein post-babylonisches Zeitalter der gegenseitigen Verständigung einzutreten. Technisch ist das schon heute machbar. Daran zu arbeiten, dass eine solche Öffentlichkeit endlich Realität wird, hat sich der neue Council for European Public Space vorgenommen." Matthias Pfeffer, Journalist, KI-Experte und Gründungsmitglied des Council for European Public Space

Keines unserer großen Probleme wie die öffentliche Gesundheit, die soziale Krise oder der Klimawandel können wir lösen, ohne uns mit dem wachsenden Problem der Fehlinformation zu befassen. Unsere Entscheidungen müssen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Fakten beruhen. Die Förderung evidenzbasierter Informationen und die Verbreitung zuverlässiger wissenschaftlicher Informationen sind von entscheidender Bedeutung und stehen im Mittelpunkt des Mandats des European Science-Media Hub im Europäischen Parlament.“ Svetla Tanova-Encke, Koordinatorin des European Science-Media Hub (ESMH) im Europäischen Parlament

Gibt es einen in Potsdam diskutierten Lösungsansatz zur Problematik, der den Digitaltag überdauern wird?

Wir Bürger:innen dürfen stolz sein auf die EU. Sie unternimmt umfassende Anstrengungen, um wildgewordene, digitale Märkte zu regulieren und ermöglicht den Bürgern den Zugang zu verlässlichen Informationen. Seit 2016 regelt die europäische Datenschutzgrundverordnung den Umgang mit personenbezogenen Daten. Am 14. Juni 2023 wurde im Europaparlament das EU-Gesetz für Künstliche Intelligenz verabschiedet, das gewährleistet, dass KI-Systeme den demokratischen Werten und Rechten der EU entsprechen. Beide Gesetze sind beispiellos in der Welt. Viele Entscheidungen für die europäischen Mitgliedsländer werden in Brüssel und Straßburg getroffen. Das gefällt nicht allen Regierungen und Bürger:innen. Wir müssen aber im Blick behalten, dass die EU mehr Manpower für die Erarbeitung und schließlich mehr Schlagkraft zur Durchsetzung von Gesetzen  hat als jeder einzelne Staat. Das sollten wir im Blick behalten, beobachten und schließlich auch wählen.

Was hätten Sie im Nachhinein anders gemacht?

Wir hätten mit dem Wettergott einen Vertrag schließen sollen, der Sonnenschein garantiert hätte …