"Literarische Fiktion ist Lügen auf höchstem Niveau"
Der Bayerische Buchpreis 2024 wurde nach einer öffentlichen Jury-Sitzung am Donnerstagabend an Clemens Meyer und Steffen Mau verliehen: Eindrücke von der Veranstaltung und der Jury-Diskussion.
Der Bayerische Buchpreis 2024 wurde nach einer öffentlichen Jury-Sitzung am Donnerstagabend an Clemens Meyer und Steffen Mau verliehen: Eindrücke von der Veranstaltung und der Jury-Diskussion.
"Jetzt können wir alle zwei Stunden den Atem anhalten." Mit diesen Worten eröffnete die BR-Moderatorin Judith Heitkamp die diesjährige Verleihung des Bayerischen Buchpreises. Und in der Tat: Hier wurde versiert über Bücher gesprochen, während einen Tag zuvor die politischen Ereignisse sich überschlagen hatten. Und doch! Lesen ist eben auch Denken, sich eine eigene Meinung bilden. Das wurde an diesem Abend mehr als klar.
Wie stets fand die Preisverleihung in der Allerheiligen-Hofkirche der Münchner Residenz statt. Die Modalitäten sind bekannt: Eine Dreier-Jury bespricht drei ausgewählte Neuerscheinungen aus der Belletristik und aus dem Sachbuch. Die beiden Gewinner erhalten dann jeweils 10.000 Euro Preisgeld und einen Löwen aus der Porzellanmanufaktur Nymphenburg. Das Trio der Juroren war dasselbe wie im vergangenen Jahr: Marie Schoeß, Kulturredakteurin und Moderatorin beim Bayerischen Rundfunk, Andreas Platthaus, verantwortlich für das Ressort Literatur bei der "FAZ", und Cornelius Pollmer, bislang tätig im Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung", der aber zum Jahresende zur Wochenzeitung "Die Zeit" wechselt (Ressortleitung "Zeit im Osten").
Doch bevor es richtig zur Sache ging, wurde der Bayern 2-Publikumspreis verliehen. Er ging an Leonie Schöler für ihr erzählendes Sachbuch "Beklaute Frauen" (Penguin). Dass das Publikum auch abstimmen kann, macht durchaus Sinn. Denn Klaus Füreder, Vorsitzender im Börsenverein des Deutschen Buchhandels Landesverband Bayern, sagte es klipp und klar: "Die gesamte Preisverleihung wirkt sich im Buchhandel sichtbar auf die Verkaufszahlen aus."
Einen klaren Höhepunkt gab es vor der Jury-Diskussion: Die Verleihung des Ehrenpreises des Bayerischen Ministerpräsidenten. Markus Söder konnte zwar nicht anwesend sein, dafür war es die Preisträgerin: Donna Leon. Vertreten durch Staatsminister Florian Hermann ließ Söder wissen, dass Leons Commissario Brunetti und ihr Venedig zu seiner Lieblingslektüre gehören. Söder sieht Leons Krimis stets mit einer gewissen Gesellschaftskritik verbunden – und damit mit den Schattenseiten, aber auch den Lichtblicken des Lebens. "I am very moved. Thank you, Ministerpresident", so begann Donna Leon ihre Dankesrede. Und dann philosophierte die berühmte Autorin über das Lügen. Das sei nämlich notwendig, wenn man eine spannende Geschichte erzählen will. Literarische Fiktion sei Lüge auf höchstem Niveau – und ein Spiegel zur Realität. Denn: "Verbrechen bricht mit den tatsächlichen Regeln von Menschen." Wer also literarisch lügt, spricht oft Wahres. Und noch etwas gilt laut Donna Leon: "Leute brauchen Lügen – das haben gerade die USA bewiesen."
Drei Bücher wurden jeweils in den beiden Kategorien besprochen. Im Bereich Sachbuch war dies zunächst "Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt" (Suhrkamp) von Steffen Mau. Der Autor ist Professor für Makrosoziologie und ist demnach ein Kenner auf diesem Gebiet. Seine These: Den Osten verwestlichen zu wollen, muss scheitern. Denn durch die Erfahrungen in der DDR und in den Wendejahren hätten die Ostländer eine eigene Geschichte und damit eine eigene Erfahrungswelt ausgebildet. Das alles wird von Mau keineswegs als rein positiv bewertet. Cornelius Pollmer strich die historische Tiefe des Buchs heraus und Andreas Platthaus konnte dem nur zustimmen: "Unsere Demokratie steht vor großen Herausforderungen. Da muss man wissen, nach welchen Kriterien Menschen aus dem Osten wählen." Nüchtern und doch essayistisch, und daher gut lesbar sei Maus Buch, betonte wiederum Marie Schoeß.
Das zweite Sachbuch stammte von dem Autorentrio Harald Meller, Kai Michel und Carel van Schaik. Da haben sich ein Archäologe, ein Historiker und ein Verhaltensforscher zusammengetan, um gemeinsam die Publikation "Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Krieg führen. Eine Menschheitsgeschichte" (dtv) zu schaffen. Alle drei Juroren waren von der gedanklichen Tiefe dieses Buchs beeindruckt, doch auch Kritik wurde leise geäußert: Wenn es so ist, dass Menschen Krieg führen seitdem sie sesshaft geworden sind und nach Eigentum streben, dann bleibe die Frage, was wir mit dieser Erkenntnis hier und jetzt anfangen sollen.
Zuletzt wurde das Buch "Zugemüllt. Eine müllphilosophische Deutschlandreise" (C. H. Beck) des Philosophieprofessors Oliver Schaudt besprochen. Dass unser Müllproblem einmal unter einem philosophischen Blickwinkel betrachtet wird, fanden alle drei Juroren äußerst bemerkenswert. "Mit diesem Buch lernen wir, wie wir mit unseren Müllsorgen umgehen sollten", bemerkte Marie Schoeß. Und Andreas Platthaus ergänzte: "Unsere Müllberge haben eine neue Qualität erreicht. Dieses Buch ist ein stichhaltiger Reisebericht dafür." Und trotz der positiven Kritik war bald klar, für welches Sachbuch man sich entscheiden würde: Steffen Maus "Ungleich vereint". Der Autor zeigte sich von seiner humorvollen Seite: "Ein Buch über Ostdeutschland bekommt in Bayern den Buchpreis. – Die Deutsche Einheit ist vollendet!"
Ein Buch über Ostdeutschland bekommt in Bayern den Buchpreis. – Die Deutsche Einheit ist vollendet!
Steffen Mau
In der Kategorie Belletristik stand zuerst "Hey guten Morgen, wie geht es Dir?" (Klett-Cotta) von Martina Hefter zur Debatte. Ihr Buch wurde bereits mit dem Deutschen Buchpreis 2024 ausgezeichnet. Pollmer lobte die sehr genaue Sprachführung. Schoeß wiederum war von der Dreierkonstellation der Protagonisten begeistert. Und Platthaus hob die mythische Dimension des Textes hervor. Und doch: Man spürte, dass die Verleihung des Deutsche Buchpreises die Juroren in ihrem Lob etwas einbremste.
Als zweites Buch kam der über 1.000 Seiten starke Roman "Die Projektoren" (S. Fischer) von Clemens Meyer an die Reihe. Es handelt sich dabei ohne Zweifel um ein breit angelegtes Sprachkunstwerk: Karl Mays Abenteuerwelt wird mit der blutigen Geschichte Jugoslawiens vom Einmarsch der deutschen Wehrmacht bis zum Zerfall des Staates in den 1990er Jahren kontrastiert. Platthaus hob vor allem die kunstvolle Sprachführung des Autors hervor. Dem schlossen sich die beiden anderen Juroren an, wobei auch die perfekte Detailarbeit Meyers hervorgehoben wurde.
Zuletzt kam Alexandra Stahls Roman "Frauen, die beim Lachen sterben" (Jung und Jung) zur Besprechung. Auch dieses Buch erntete viel Lob, wobei die prägnante Gesellschaftskritik und die dunkle Ironie des Textes betont wurde.
Die Entscheidung für eines der drei Bücher fiel der Jury keineswegs leicht. Doch Clemens Meyer konnte sich durchsetzen – und damit ein Roman, der sicherlich literarische Maßstäbe setzt, Literatur als Gesellschaftskritik und Kunstform realisiert. Und der Autor bekräftigte dies in seiner Dankesrede: "Literatur muss in unserer Zeit weh tun dürfen. Literatur muss wie ein Echolot in die Tiefe dringen." In Zeiten wie diesen wird sich diesen Worten niemand verschließen können.