Deutsch-Französischer Jugendliteraturpreis

Die Shortlist 2023 steht

4. Mai 2023
Redaktion Börsenblatt

2023 steht die Sparte Bilderbuch im Mittelpunkt: Je sechs deutsche und französische Titel stehen auf der Shortlist des Deutsch-Französischen Jugendliteraturpreises.

Diese Titel sind für den deutsch-französischen Jugendliteraturpreis nominiert:

In beiden Sprachen wird jeweils ein Siegertitel gekürt. Die Preisträger:innen erhalten jeweils 6000 Euro. Den Verlagen wird für die Übersetzung jeweils 2000 Euro zur Verfügung gestellt. Die beiden Siegertitel werden von 12. bis 14. September auf der Europäischen Kinder- und Jugendbuchmesse in Saarbrücken bekanntgegeben.

Antje Damm:" Ahhh!" (Tulipan)

Begründung der Jury:
Eine Leine bedeutet: Jemand zieht und etwas wird gezogen. Oder umgekehrt? Die Illustratorin und Architektin Antje Damm baut eine Bühne ohne Hintergrund; der Grundton Grau charakterisiert die Straße. Hier finden von Zufall geprägte Begegnungen statt, die mit Rufen wie „Oh!“, „Hui!“ oder „Na?“ kommentiert werden – spätestens beim dritten Anschauen sprechen Kinder begeistert mit. In einer besonderen Collagetechnik mit ausgeschnittenen Figuren arrangiert Damm zwölf auf das Wesentliche reduzierte Szenen, ein Reigen, Kettenreaktionen, die kleine Betrachter.innen gespannt nachverfolgen können: Bei jedem Umblättern folgt eine Überraschung. Fast greifbar wirkt das Stückchen Kordel, das sich als Leine durch die verschiedenen Bilder zieht. Ein Wechselspiel zwischen Zwei- und Dreidimensionalität.

Benjamin Gottwald: "Spinne spielt Klavier" (Carlsen)

Begründung der Jury:
Hier dürfen Kinder zischeln und knurren, hauchen, brummen und mehr: Wie hört es sich an, wenn Luft aus dem Fahrradschlauch entweicht, Bauklötze umfallen? Wie klingen Würfel, ein Fön, ein Wasserfall? Benjamin Gottwald fokussiert die jeweiligen Szenen so, dass er Menschen, Tiere, Landschaften und Gegenstände zum Klingen bringt und die Betrachter.innen zudem meist wissen, auf welches Geräusch es denn gerade ankommt – eine rechte Kunst. Aber gar nicht immer leicht mit Leben zu füllen: Wie hört sich denn ein sanft dahingleitender Papierflieger an? Auf Doppelseiten werden auch Geräusche gegenübergestellt, teils werden Erzählzusammenhänge hergestellt und Binnenstrukturen sichtbar. Letztlich sind Gottwalds klar strukturierte, interaktive Bilder ein Ratespaß sondersgleichen. Irgendeine Form von Text braucht dieses Buch daher nicht – es „spricht“ für sich.

Stefanie Taschinski & Karsten Teich: "Bruno" (Dragonfly)

Begründung der Jury:
Wenn Erwachsene übergriffig werden, fehlen Kinder meist die Worte. Stefanie Taschinski erzählt im Text nicht aus, sondern lässt genügend Leerstellen zum Überlegen, Einhaken, Selbstformulieren. Karsten Teich findet in variationsreichen Comicpanels eindrückliche Bilder für die bedrückenden Gefühle, die Katzenkind Bruno in der Nähe der Taube empfindet, zeigt, wie Eltern und Erzieher Veränderungen beobachten. Wie Teich dem Unsagbaren Raum gibt, wie er die Figur der omnipräsenten Taube mit raschelnden Federn als ebenso weiblich wie männlich anlegt, wie er mit wenigen konturbetonten Strichen Brunos Gefühlslagen seismografisch einfängt – das ist meisterhaft gelungen. Samt einem für Kinder sehr befreienden Ende. Ein Bilderbuch mit großem Nachhall.

Sonja Danowski: "Nachts im Traum" (Bohem Press)

Begrümdung der Jury:
13 Kinder aus unterschiedlichen Regionen der Welt sieht man schlafen – und auf der nächsten Doppelseite erfahren wir, was sie gerade träumen. Reale Gegenstände tauchen im Traum auf und verändern sich. Stille Tableaus wechseln mit epischen, oft mit erkennbar symbolischem Gehalt. Die Träume sind dabei keine Fluchten, sondern verarbeiten das tagsüber Erlebte – der Traum lässt Rückschlüsse auf den Alltag zu. Begleitet von Haikus geht von Sonja Danowskis sorgfältigst komponierten Bildern in weichen pastellig erdigen Farbtönen eine unglaubliche Ruhe aus; sie sind poetisch verrätselt und verschieden entschlüsselbar. Ein Bilderbuch, für das man sich Zeit nehmen muss.

Kristina Heldmann: "Alfred, Elefant seit 1932" (Jacoby & Stuart)

Begründung der Jury:
Am 7. Juli 1932 wird aus einem Brett ein rollender Holzelefant. Teils durch Zufall, teils gezielt wird er an ein jeweils jüngeres Kind weitergegeben, und so begleitet Kristina Heldmann ihn in Text und Bild auf seiner Reise von Kindergeneration zu Kindergeneration. Alfred ist Tröster und Begleiter, verhilft Kindern zum Laufen, rettet ein ins Eis eines Weihers eingebrochenes Mädchen und erlebt selbst Abenteuer, wenn er auf einem Fluss dahintreibt. In sieben Geschichten gibt Heldmann Einblicke in den deutschen Alltag bis zum 7. Juli 2022, wo sich auf den Hashtag #elefantsuchtseinekinder alle ehemaligen Alfred-Besitzer:innen zusammenfinden. Heldmann bildet dabei in einer an die Kinderbücher der 60er Jahre erinnernde Retro-Optik das Typische des jeweiligen Jahrzehnts in Kleidung und Interieur ab und weist mit dem gesamthistorischen Bogen doch weit darüber hinaus.

Sascha Reh & Adrian Wylezol: "Wie wir einmal Dirk Nowitzki entführten" (Karl Rauch Verlag)

Begründung der Jury:
Sprachwitz trifft Bildwitz in diesem turbulenten Abenteuer der 13-jährigen Billie und ihrer Freunde, die Basketball üben wollen und dafür einen Ort suchen. In einem stillgelegten Flughafen treffen sie auf den kauzigen Delroy, der sich mit Basketball ebenso gut auskennt wie mit Physik und dem Leben und sie trainiert. Der Berliner Illustrator Adrian Wylezol spielt mit Linien, Fluchten und Panels, überrascht durch Variationen der Doppelseiten. Sascha Reh versteht es, sowohl Wissen zu vermitteln als auch mit Kurzdialogen pointenreich zu unterhalten. Als der Flughafen bebaut werden soll, entwickeln alle einen ausgefuchsten Plan, um Dirk Nowitzki zu einem Spiel zu lotsen. Subtile Sozialstudien wechseln in dieser Graphic Novel mit temporeichen Sequenzen; über allem: humorige Gelassenheit.

Stéphane Kiehl: "Noir – une histoire dans la nuit" (La Martinière jeuness)

Begründung der Jury:
Jeden Abend besucht ein Kind sein Pferd, um es auf der Wiese traben zu sehen: Sauvage ist majestätisch und ganz schwarz und wurde noch nie von jemandem geritten. Doch an diesem Abend kommt plötzlich ein starker Wind auf, die Farben des Himmels ändern sich, ein lauter Donnerschlag durchbricht den Himmel und Blitze löschen die Lichter im Dorf. Die Zeit drängt, um nach Hause zu gehen und das Pferd auf seine Koppel zu bringen. Das Tier lässt sich das Geschirr anlegen, bleibt ruhig und der Weg, den sie einzuschlagen müssen, ist noch gut zu erkennen. Doch als sie in den dichten Wald gelangen, gewinnt die Dunkelheit die Oberhand, die Angst steigt und alle Orientierungspunkte verschwinden in der Finsternis. An einem Flusslauf angekommen, bleibt dem Jungen nichts anderes übrig, als auf Sauvage zu steigen, sich an seiner Mähne festzukrallen und sich mitreißen zu lassen. „Die Sterne waren sehr wohl da, hingen am tintenfarbigen Himmel.“

Genau diese Farbe verwendete Stéphane Kiehl, um ein Meisterwerk ganz in Schwarz zu schaffen, teilweise auf transparentem Pauspapier, um die Momente großer Angst und Zerbrechlichkeit zu veranschaulichen, den Albtraum der Verlorenheit, in dem die Naturgewalten die Oberhand gewinnen. Dass ein Kind sich zum ersten Mal auf den Rücken seines Pferdes traut und sich jener bislang unbekannten Einheit hingibt, indem es spürt, dass sich menschliche und tierische Klugheit ergänzen, ist eine starke Botschaft, die auf eindrucksvollste Weise illustriert wurde.

Laëtitia Bourget & Joanna Concejo: "Tu es là" (Les Grandes Personnes)

Begründung der Jury:
Zwei kleine Schühchen. Das erste Mädchen mit Zöpfen, kariertem Schürzenkleid, Wollweste und Claudine-Kragen. Das zweite: moderner, mit einem kürzeren Schnitt und einem Strickpullover. Und schließlich die dritte, die fast heutig anmutet. Die Pappeln zittern im Wind. Der weiche Gang einer Katze führt durch das hohe Gras. Die Jahreszeiten, die in sinnliche Erfahrungen umgedeutet werden, folgen aufeinander. Sinneseindrücke wie auch nostalgische Momente lassen die Bande, die drei Frauen aus drei verschiedenen Generationen verbinden, wieder und wieder aufleben und führen sie über die Zeiten und über den Tod hinaus in der Kindheit zusammen.

Seite für Seite werden die allgegenwärtige Abwesenheit und die Vergänglichkeit der verrinnenden Zeit dargestellt. „Du bist da/Du bist wahrhaftig da/seit du nicht mehr da bist“: Es ist die schmerzhafte Trennung, die die Verbindung schafft und die Verbundenheit hervorruft. Dank der Transparenz und der Überlagerungen, die das
Transparentpapier ermöglicht, tauchen Erinnerungen, flüchtige Eindrücke und vergrabene Gefühle in einem Sammelsurium wiedergefundener, zerlegter und neu zusammengesetzter Erinnerungen auf und weben nach und nach eine unlösbare Verbindung zwischen diesen drei Frauen, die sich aus Kontinuität und subtilen Unterschieden speist. In diesem prachtvollen Bilderbuch sind plastische und poetische Anregungen miteinander verwoben, um die Spuren zu enthüllen, die die Ahnenreihe in uns hinterlässt, und die feinstoffliche Verarbeitung des Verlusts eines geliebten Menschen zu vergegenwärtigen.

Rudy Spiessert: "Comment apprivoiser une grenouille" (L’école des loisirs)

Begründung der Jury:
Wie zähmt man einen Frosch? Es der größte Traum des jungen Clément. Nichts einfacher als das! Man muss nur die Anweisungen des Erzählers (oder der Erzählerin!) befolgen. Von da an überschlagen sich die Ereignisse mit viel Humor und in einem sich immer höherschraubenden Tempo. Die Aufgaben werden immer verrückter, wie gegen den schrecklichen Bären mit Schnurrbart anzutreten oder einen frierenden Kürbis im Garten einer Hexe zu finden. Der Dialog zwischen Clément und der Stimme, die ihn leitet, führt die Leser und Leserinnen auf spielerische und lockere Weise in eine Geschichte ein, die man laut lesen sollte. Und auch wenn am Ende alles gut ausgeht, muss man vielleicht lernen, dass man nicht alles glauben kann, was einem erzählt wird!

Marine Schneider: "Hekla et Laki" (Albin Michel Jeunesse)

Begründung der Jury:
An einem windigen Tag taucht ein kleines Wesen auf, das wie ein Funke in das einsame Leben des Riesen Laki eindringt. Der winzige Hekla bringt den Alltag des alten Giganten, der am Ende seines Lebens angekommen ist, aus den Fugen. Hekla wird bald lernen müssen, allein zu leben... Irgendwo zwischen Märchen und Legende erzählt dieses großformatige Bilderbuch von der Freundschaft zwischen Alt und Jung und vom Weitergeben und Erlernen alten Wissens. Die prächtigen Farben der nordischen Landschaften und die Poesie des Textes harmonieren nahtlos mit dem poetischen und rhythmischen Text, während der Kontrast von glühendem Orange und sanften Blautönen die Lesenden fasziniert und in eine traumhafte und bezaubernde Atmosphäre eintauchen lässt. Ein Bilderbuch, das zu einer kontemplativen und beruhigenden Lektüre einlädt.

Karthika Naïr & Joëlle Jolivet: "Les oiseaux électriques de Pothakudi", (Hélium)

Begründung der Jury:
Raja hat die Aufgabe, jeden Abend den einzigen Stromgenerator einzuschalten, der sein indisches Dorf beleuchtet. Doch nun hat ein Vogelpaar sein Nest im Stromkasten eingerichtet. Was tun? Das Nest zerstören? Oder in Dunkelheit leben? Die Meinungen gehen weit auseinander: einerseits sind die Jugendlichen und Kinder neugierig darauf, diese seltenen Vögel zu beobachten, die durch Lärm und Umweltverschmutzung vertrieben wurden, vielen Erwachsenen ist hingegen die Beleuchtung wichtiger.

Raja stellt die etablierte Ordnung in Frage, indem er den Alltag auf den Kopf stellt, und zwar auf ganz natürliche Weise. Argumentieren. Kommunizieren. Verzicht üben. Lernen, für die Rettung der Vögel zu kämpfen. Sobald dieser Schritt getan ist, wird sich die Natur wieder durchsetzen. Eine berührte und staunende Stille begrüßt das erste Ei, und kollektive Freude bricht aus, als endlich das Küken schlüpft… Ist es eine Hymne an die Natur? Oder an die Solidarität, die Demokratie, die Fauna und noch viel mehr? Es ist all das. Auf halbem Weg zwischen Märchen und Realität wirkt die Magie auf jeder Seite, getragen vom Fluss der Erzählung, die ebenso achtsam wie poetisch ist und vor Details wimmelt. Eine wahre Weltreise in 35 Tagen – und das in einem einzigen Vogelnest.

Begründung der Jury:

Das Bilderbuch „Te souviens-tu, Marianne?“ ist eine sensible und feinfühlige Hommage an Marianne Cohn, eine junge deutsch-jüdische Widerstandskämpferin. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verließ Marianne Nazi-Deutschland, um zunächst in Spanien und dann in Frankreich Zuflucht zu finden. Dort engagierte sie sich in der Résistance und versteckte zahlreiche jüdische Kinder bei Familien, die sie trotz aller Risiken unter falscher Identität aufnahmen. Später brachte sie jüdische Kinder in die Schweiz, wofür sie verhaftet, gefoltert und schließlich im Alter von 21 Jahren ermordet wurde.

Ohne dem Pathos zu verfallen, richtet sich der nüchterne und sanfte, treffende und poetische Text an Marianne, in Form eines fiktiven Briefes. Ihr Mut, ihre Menschlichkeit und das Wunder all der Kinder, die sie trösten und retten konnte, werden auf wunderbare Weise wiedergegeben. Die Illustrationen, die abwechselnd in Farbe und Sepia gehalten sind, tragen zu dieser schönen Alchemie bei, die wie ein verhaltener Schrei, wie ein Aufruf zur Erinnerung, wie das Lob einer strahlenden Persönlichkeit und wie ein Schicksal klingen, das stärker ist als der Tod.