Interview mit Astrid Böhmisch

"Nicht nur die Größten sollen die lauteste Stimme haben!"

15. Februar 2024
Nils Kahlefendt

Astrid Böhmisch steht unter Beobachtung: Ob IG Belletristik und Sachbuch in München oder Presselunch in der Niederländischen Botschaft in Berlin, die ersten öffentlichen Auftritte der neuen Chefin der Leipziger Buchmesse wurden gespannt verfolgt. Im ersten großen Interview erklärt Böhmisch, wie sie die LBM in ökonomisch wie branchenpolitisch schwierigen Zeiten weiterentwickeln will. 

Astrid Böhmisch

Von der 100-Tage-Frist, die nach einer journalistischen Faustregel einer neuen Amtsinhaberin oder einer Regierung zugestanden wird, um sich einzuarbeiten und erste Erfolge vorzuweisen, ist heute nicht viel mehr übrig als eine kurze Warmlaufphase, nach der die erste Leistungsbilanz fällig wird. Im Fall von Astrid Böhmisch, der Mitte November per Pressemeldung vorgestellten neuen Direktorin der Leipziger Buchmesse, die Anfang Januar ihren Dienst antrat, ist auch die dreimonatige Schonfrist obsolet: Der vom 21. bis 24. März stattfindende Frühjahrs-Branchentreff kann 2024 logischerweise noch nicht ihre Handschrift tragen. In ihren dieser Tage gespannt verfolgten ersten öffentlichen Auftritten – auf der Jahrestagung der IG Belletristik und Sachbuch in München, zum Presselunch in der Niederländischen Botschaft in Berlin oder zur Verleihung des Sächsischen Verlagspreises vor der Haustür in Leipzig – setzte Böhmisch auf Kontinuität, aufs genaue Hinhören. Eine Wohnung in der Leipziger Südvorstadt ist bezogen, die Berliner, wo Böhmisch 2023 als Business Consultant gearbeitet hat, noch nicht aufgegeben.

Wir treffen Böhmisch in ihrem Büro am Ende eines langgestreckten großen Raums im östlichen Teil des Verwaltungsgebäudes, wohin das Messeteam im letzten Sommer umgezogen ist. Ein Eckbüro mit großen Glasflächen, funktional eingerichtet, ohne Schnickschnack. Auf dem Besprechungstisch eine Deutschlandradio-Kaffeetasse, auf dem Stehpult die aktuelle Ausgabe einer Hamburger Wochenzeitung. An der umlaufenden Stahlkonstruktion jenseits der Fensterscheibe ein Schild: „Zutritt verboten, Lebensgefahr!“ Die besteht in ihrem neuen Job sicher nicht. Dennoch gibt es vermutlich leichtere Aufgaben, als den sich lange als „Buchmesse der Herzen“ verstehenden Leipziger Jahresaufgalopp nach der Ära Oliver Zille und in ökonomisch wie branchenpolitisch schwierigen Zeiten weiterzuentwickeln.    

Astrid Böhmisch

Frau Böhmisch, wir treffen uns quasi zur Halbzeit: Sie sind gerade sechs Wochen im neuen Job, in sechs Wochen öffnen sich die Buchmesse-Tore. Wie geht’s Ihnen mit diesem Sprint?  
Astrid Böhmisch:
Es ist fordernd. Ich bin ja im letzten Viertel des Rennens hier gestartet, alle anderen sind schon fast an der Ziellinie. Aber für mich wirkt das sehr motivierend - nicht ins kalte Wasser springen zu müssen, sondern in die hochenergetische Zone mit reinzukommen. Ich schaue mir alle Prozesse an, werde an der ein oder anderen Stelle eine persönliche Note setzen können. Ich weiß, wie schwer der Neustart 2023 für das Team gewesen ist. Aber schon Karl Valentin wusste: „Schwer ist leicht was.“ 

Astrid Böhmisch

Für mich wirkt das sehr motivierend - nicht ins kalte Wasser springen zu müssen, sondern in die hochenergetische Zone mit reinzukommen.

Astrid Böhmisch

Entscheidend ist auf’m Platz, meinte der Dortmunder Borusse Adi Preißler: Wo stehen Sie bei Ausstellern und Fläche?  
Böhmisch:
Was die Ausstellerzahlen betrifft, trennt uns nur ein Wimpernschlag von 2023. Vor einem Jahr hatten sich 2082 Aussteller aus 40 Ländern an der Buchmesse beteiligt – damals noch mit der Corona-Förderung aus dem Programm „Neustart Kultur“. Gleichermaßen gut sieht es bei der Manga Comic Con (MCC) aus - da sind wir weit in der Überbuchung. Das stimmt uns sehr, sehr positiv. 

Was sind ihre Erwartungen hinsichtlich der Besucherzahlen?  
Böhmisch:
Wir haben vor drei Wochen den Vorverkauf gestartet. Auch hier liegen wir leicht über den Vorjahreszahlen. Und das bei wirtschaftlichen Rahmendaten, die in Deutschland gerade alles andere als rosig sind. Denken Sie nur an das verfügbare Einkommen der Besucherinnen und Besucher, der Familien! 2024 ist ein schwieriges Jahr, andere Branchen klagen sehr. Wir können wirklich sehr gelassen auf die Zahlen schauen. 

 

Die Leipziger Buchmesse hat immer als physisches Event gepunktet, auch in Corona-Zeiten, als sich andere zu Tode streamten, hat man eher nur die Basics bedient. Einzigartig machte Leipzig die Publikumsmesse, die Tuchfühlung zwischen Autorinnen, Autoren und Leserschaft. Für die Verlage ist das der Grund, nach Leipzig zu kommen. In ersten Statements haben Sie sich als „Brückenbauerin“ beschrieben – wie buchstabiert sich das aus? 
Böhmisch: Ich sehe meine Erfahrung im digitalen und analogen Bereich der Bücherwelt als Möglichkeit, Brücken zu bauen – zwischen großen und kleineren Verlagen, Branche und Publikum, digital und analog. Gerade junge Menschen, die oft beschworenen Digital Natives, verbringen einen Großteil ihres Lebens in komplett digitalen Räumen...

Aber jeder Trend verursacht seinen Gegentrend, oder?  
Böhmisch:
Korrekt. In diesem Fall ist es die Sehnsucht nach persönlicher Begegnung.

Wenn es die Leipziger Buchmesse nicht schon gäbe, müsste man sie erfinden... 
Böhmisch: Ganz viele Menschen sehnen sich nach Austausch, auch und gerade jüngere! Auf der Messe kommt das Momentum der Zufälligkeit dazu. Ich bleibe an einem Stand hängen, weil ich die Leute sympathisch finde oder die Buch-Cover toll. Etwas, das man in der Forschung als serendipity bezeichnet…

Bitte…? 
Böhmisch:
Auf Deutsch: Serendipität. Das Stolpern über eine Sache, nach der man nicht gesucht hat. Ich finde das als Konzept toll, weil: Es ist nicht der pure, reine Zufall - sondern die Möglichkeit, die man schafft, wenn unterschiedlichste Menschen aufeinandertreffen. Da kommt etwas ganz Neues, was erst mal überraschend scheint. Das aber gezielt ermöglicht wurde. Wir knüpfen unser Netz nicht nur rein digital oder analog. Die Bereiche bedingen sich und können sich gegenseitig aufladen.

Derzeit spricht alles von Tik Tok & Co. - groß gemacht wurde Leipzig auch durchs Engagement der traditionellen Medien, von den großen Zeitungen bis zu den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF. Deren Krise begann lange vor Corona. Wie hält die Buchmesse die klassischen Medien bei der Stange? 
Böhmisch: Wir betrachten uns als Partner dieser Medien, die sich in einem veritablen Strukturwandel befinden. Auf den Öffentlich-Rechtlichen lastet ein immenser Legitimitätsdruck, sie sollen sparen, effizienter werden, müssen auf ihre Formate schauen. Neue Plattformen und Kanäle müssen ihr publizistisches Selbstverständnis erst entwickeln. In diesem Spannungsfeld agieren wir, das kann nicht spurlos an uns vorbeigehen. Fest steht, dass wir zu neuen Partnerschaften mit diesen Medien finden müssen - der Handlungsspielraum, den sie haben, wird langfristig wohl kleiner sein. 

Die Krise als Chance, wieder einmal?  
Böhmisch:
Es mag nach einer Binse klingen. Aber für mich heißt das sehr wohl, dass wir aktiv auf Medien zugehen werden mit der Frage: Was ist möglich? Was könntet ihr möglich machen? Gibt es neue Ideen, um in einem für uns alle veränderten Koordinatensystem zu agieren? Seitens der Medien merke ich da einen großen Gestaltungswillen. Und ich denke, wir werden auch neue Partner gewinnen müssen. 

Leipzig sei für ihn ein „Forum der Demokratie, ein Ort der Selbstvergewisserung und der produktiven Verunsicherung“, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer beim „Zukunftsgespräch“ zur Leipziger Buchmesse 2022. Sie leiten kein Kultur-Festival, sondern eine Messe, die zum Ertrag des von Stadt und Freistaat geförderten Gesamtunternehmens beitragen soll – und das in der Vergangenheit auch erfolgreich getan hat. Wie wollen Sie künftig in diesem Spannungsfeld agieren?
Böhmisch: Wir haben uns die Vielfalt der Angebote und Meinungen auf die Fahne geschrieben, und auch mir persönlich ist das besonders wichtig. Das trage ich natürlich weiter. 

Ich nehme natürlich sehr stark wahr, unter welch schwierigen Bedingungen gerade kleinere unabhängige Verlage derzeit arbeiten müssen. Nicht nur die Größten sollen die lauteste Stimme haben! 

Astrid Böhmisch

Gerade unabhängige Verlage befürchten, dass bei der Messe als kulturelle Leuchtturm-Veranstaltung vermeintlicher Ballast abgeworfen wird. Können Sie die Sorge verstehen? 
Böhmisch: Natürlich, ich führe ja viele Gespräche. Und nehme natürlich sehr stark wahr, unter welch schwierigen Bedingungen gerade kleinere unabhängige Verlage derzeit arbeiten müssen. Es ist wahnsinnig schwierig, ambitioniertes Programm zu machen! Mir ist es wichtig, die Vielfalt der Independent-Szene hier abzubilden – das hat die Branche ja immer ausgemacht. Nicht nur die Größten sollen die lauteste Stimme haben! 

Welche Rolle wird „Leipzig liest“ künftig spielen? In der Vergangenheit sollte zwischen Messe und Lesefestival kein Platt Papier passen. Wird das eine auch künftig ohne das andere nicht zu haben sein?  
Böhmisch:
 "Leipzig liest" gehört zu unserem Markenkern - so nehmen uns die Menschen da draußen schließlich auch wahr. Wir haben im Zuge einer Marktforschung bestätigt bekommen, dass die Beweggründe, zur Messe zu kommen, die Messe, die MCC und Leipzig liest sind. Dass das als ein Angebot gesehen wird, mit der ganzen Bandbreite an Inhalten und Programm.

Wir haben ein Superwahljahr im Osten, die AfD steht in Umfragen vorn. Demokratieförderung, Angebote zum Dialog und gesellschaftliche Bildung waren wahrscheinlich nie nötiger als jetzt. Werden Formate wie das „Forum offene Gesellschaft“, die 2023 Premiere hatten, weiter gepflegt?
Böhmisch: Wir treiben sie mit Verve weiter. Und sind auch in engen Gesprächen mit dem Börsenverein, wie wir das Demokratieverständnis stärken können. Dafür steht nicht nur die Buchmesse, sondern auch die Leipziger Messe GmbH. 

Die Formel von der „Drehscheibe zwischen Ost und West“ war in Leipzig keine Floskel, sondern wirklich mit Leben gefüllt. Angesichts eines heißen Kriegs in Europa und vieler Konfliktherde schauen viele Augen auf uns…
Böhmisch:
Auch hier arbeiten wir mit unseren Partnern weiter! Wir müssen uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen, im Dialog bleiben. Der ist auf kulturellem Gebiet auch dann noch möglich, wenn es politisch scheinbar unüberbrückbare Konfliktlinien gibt. Die Buchmesse will hier weiter Plattform, Mittler und Bühne dieses Dialogs bleiben. 

Kurz vor Ihrem Besuch bei der Jahrestagung der IG Sachbuch und Belletristik in München kam die „Süddeutsche“ mit einem Leipzig-Text um die Ecke, in dem von „unzufriedenen Verlegern“, gar einer möglichen „Konkurrenzveranstaltung“ zur Leipziger Buchmesse die Rede ist. Betitelt war das Ganze „Der kommende Aufstand“, wie die berühmte Flugschrift des „Unsichtbaren Komitees“ in Frankreich. Sind Sie von potenziellen Revoluzzern auf diesen Text hin angesprochen worden? 
Böhmisch: Das wahr, ehrlich, kein Thema. Die Gespräche waren sehr an unserer gemeinsamen Sache orientiert: Zwei starke Buchmessen, auf denen lautstark fürs Lesen und Bücherkaufen getrommelt wird. Diese Konzepte mutig weiterzuentwickeln, tut letztlich der ganzen Branche gut. Eine freiwillige Verzwergung wäre kontraproduktiv. 

Dennoch ist auch die Leipziger Buchmesse „keine heilige Kuh der Branche“, wie es der – revolutionärer Umtriebe komplett unverdächtige – Thedel von Wallmoden im Stadtmagazin „Kreuzer“ auf den Punkt brachte. Man spürt das im Kleinen: Konzernverlage dünnen am Wochenende noch stärker aus und legen Veranstaltungen gern mal auf 19 Uhr, damit Autoren ohne Hotelübernachtung den Heimathafen der Hauptstadt erreichen. Indies organisieren Veranstaltungen auf eigene Kappe, ohne Leipzig liest. Wie halten Sie den Laden zusammen in Zeiten, wo die Controller strenger schauen?
Böhmisch: Für den aktuellen Jahrgang spüre ich solche Tendenzen nicht. Was ich dagegen vielfach aus der Branche höre, ist, dass es den Ausstellern wichtig ist, ihre Inhalte auf einer Bühne zu sehen, die sie aus eigenen Kräften nicht bauen könnten. In der Ballung wie in Leipzig ist das sonst nicht zu haben! Und in die Zukunft geblickt: Wir sehen einem Transformationsprozess entgegen, den die Film- und Musikbranche schon hinter sich haben. Die Verlage schauen genauer in den Maschinenraum, was jede einzelne Aktivität bringt, wie effizient sie im Detail ist. Das ist Teil des Prozesses, in dem auch KI eine stärkere Rolle spielen wird. 

Die Gießkanne hat ausgedient…?
Böhmisch: Ja. Das ist für uns als Messe der Auftrag, noch einmal präziser und sehr transparent zu kommunizieren, welcher Benefit mit einer Beteiligung an der Buchmesse und an Leipzig liest verbunden ist - egal, ob ich Indie oder Konzernverlag bin. Ich rede nicht nur vom Event selbst, sondern von den Dingen, die nachhaltig bleiben: Kontakte für meine Social Media-Kanäle, Austausch mit meinen Leserinnen und Lesern, Öffentlichkeit für meine Verlagsmarke. Der Fächer ist vielgestaltig. 

Als große Häuser 2022 kurz vor knapp absagten, feierten Dolchstoßlegenden und der Ost-West-Gegensatz fröhliche Urständ, Dirk Oschmann stürmte die Bestsellerliste. Sie sind west-sozialisiert und nun für eines der wenigen überlebenden Ost-Produkte verantwortlich - ein Problem?
Böhmisch: 
Fragen Sie das auch den CEO von Rotkäppchen (lacht)? Das denke ich natürlich mit. Für mich ist das der Auftrag, an vielen Stellen genauer hinzuhören, mir gegebenenfalls auch Dinge erklären zu lassen. 

Astrid Böhmisch

Die Brückenbauerin ist auch hier gefragt?
Böhmisch: The only way out is through. Wir sind die Leipziger Buchmesse, wir müssen vorwärtsgehen! Ich baue dazu gern Brücken – auch in den Süden.

ZUR PERSON:

Astrid Böhmisch, geboren 1974 in Passau, studierte Germanistik und Anglistik auf Lehramt und war zunächst für mehr als ein Jahrzehnt in der Filmvermarktung tätig – für den 3L Filmverleih (2004-2006), Senator Entertainment (2006-2015) und Wild Bunch (2015-2016). Von 2016 bis 2020 arbeitete sie als Marketing-Chefin bei Piper und verantwortete dann bis 2022 als General Manager die deutschsprachigen Märkte bei Bookwire (Frankfurt/Main). 2023 war Astrid Böhmisch als freie Beraterin in Berlin tätig.