Gastland-Serie: Auf einen Espresso mit... Chiara Valerio

"Wir zeigen damit, dass man Buchmessen nicht boykottieren muss"

17. Oktober 2024
Nicola Bardola

Die Schriftstellerin und Mathematikerin Chiara Valerio leitet in Rom selbst eine Buchmesse. Sie hat einen eigenen Blick auf Wahrscheinlichkeiten, falsche Linkshänder und Menschen mit Herz und solche ohne.

Chiara Valerio mit einem Espresso

Chiara Valerio

An der Espresso-Theke im Gastland-Pavillon bilden sich lange Schlangen. Ein Kamerateam filmt die Szenen an den Kaffee-Maschinen. Die Autorin Chiara Valerio wird bald auf dem Podium über Themen rund um ihren Roman "Kein Herz, nirgends" (Nonsolo) diskutieren. Valerio hat im Fach Wahrscheinlichkeitsrechnung promoviert. Ihre Tasse in der "Piazza" des Gastlands vor ihrem Auftritt steht so auf dem Tisch, dass sie den Henkel mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand greift. "Es gibt sehr viel mehr Rechtshänder. Die Wahrscheinlichkeit, sich als Linkshänder einen Infekt zu holen, ist geringer", schmunzelt sie.

Espresso im Gastland-Pavillon

Mit Geheimtipps auf Buchmessen kennt sich Chiara Valerio gut aus, denn sie leitet in der Hauptstadt Italiens selbst das Kulturprogramm einer Buchmesse: "Più libri più liberi" (in etwa: "Mehr Bücher, mehr Freiheit") findet seit 2002 jährlich jeweils im Dezember in Rom statt und wird von der AIE (Associazione Italiana Editori) gefördert. Die Messe widmet sich kleinen und mittleren Verlagen, die gemeinsam rund 45 Prozent des italienischen Buchmarktes ausmachen und wird inzwischen von über 100.000 Leser:innen besucht. "Mein Blick in Frankfurt richtet sich also auch auf Besonderheiten", lächelt Valerio und berichtet, dass sie von Anfang an die Toiletten inspiziert hat. "Wie werden die Besucher willkommen geheißen? Das spiegelt sich auf Messen auch recht gut in den 'bagni'." Das Zeugnis für Frankfurt nach einem Messetag fällt positiv aus: "Ja, auch die Waschräume sind in Ordnung. Aber wenn das große Publikum kommt, bin ich wieder weg. Hoffentlich wird hier dann der jetzige Standard gehalten."

Valerio liebt es, in verschiedenen Hallen die Verlagsmitarbeiter zu beobachten, die sich vor den Publikumstagen in relativer Ruhe miteinander unterhalten. "Hier geht es um Lizenzen, um Übersetzungen. Es begeistert mich, mit welcher Leidenschaft und in welchem Umfang hier sprachliche Grenzen überwunden werden. Die ganze Messe hier ist eine große 'Piazza', die nach Verständigung sucht". Valerios Prosa selbst wird in mehrere Sprachen übersetzt und sprüht vor Witz und Ironie. Statistik ist Bestandteil ihrer Erzählkunst.

"Bedrückt musterte Angelica die Röntgenaufnahmen. 'Glaubst du, ich kann von einem Moment auf den anderen sterben?'. 'Andrea, wir alle können von einem Moment auf den anderen sterben, wenn auch nicht mit gleich großer Wahrscheinlichkeit'", heißt es in ihrem Roman "Kein Herz, nirgends". Darin wacht ein Professor eines morgens ohne Herz auf, lebt aber weiter und wird dementsprechend kritisch von den zahlreichen Frauen (Ehegattin, Geliebte, Studentinnen) in seiner Umgebung beobachtet. Der herzlose Sprachwissenschaftler wird zum Symbol einer Gesellschaft, die laut Valerio aufmerksamer, toleranter und verständnisvoller miteinander umgehen sollte. Dementsprechend hat sie auch den Protestbrief der italienischen Autorinnen und Autoren unterschrieben, der sich u.a. an die AIE wendet: "Dieser Brief ist keine Drohung, sondern weist auf Probleme hin". Valerio lobt das alternative Programm, das danach italienische Schriftsteller:innen gemeinsam mit der Organisation PEN und der Buchmesse Frankfurt kurzfristig organisiert haben. "Wir zeigen damit, dass man sich nicht bekriegen muss, dass man Buchmessen nicht boykottieren muss. Viel besser ist es, im Gespräch zu bleiben und anderen Gedanken Raum zu bieten."