Interview mit Schriftsteller Thomas Zwerina

"Mit klammen Fingern liest es sich weniger gut"

27. Februar 2025
Angelika Wagner

Vor genau 200 Jahren entwickelte Louis Braille eine Schrift, die blinden Menschen Zugang zur Literatur ermöglicht. Über ihn hat Thomas Zwerina, selbst erblindet, eine lesenswerte Biografie geschrieben. Im Interview am Rande einer Lesung in Alzey gibt Zwerina Auskunft über die Entstehung seines Romans und wie er die Wahrnehmung der Welt als Blinder darin verarbeitet hat.

Thomas Zwerina liest mit den Fingern

Thomas Zwerina liest mit den Fingern.

Nimmt man Thomas Zwerinas Roman "Eine Fingerkuppe Freiheit" (HarperCollins) in die Hand, fällt auf, dass auf dem Cover die Buchstaben mit den Fingern ertastet werden können. Mit seinen Fingern las der blinde Autor auch am 20. Februar in der Kreisverwaltung Alzey-Worms eindrucksvoll und lebendig aus seinem Debüt, begleitet von seiner Frau Evi Lerch. Veranstaltet wurde die Lesung von der Buchhandlung Schmitt & Hahn C. Machwirth in Alzey, Buchhändlerin Anita Odhiambo führte durch den Abend. In ihrer Begrüßung betonten Landrat Heiko Sippel und die Behindertenbeauftragte der Stadt, Nina Becker, dass durch die Lesung Öffentlichkeit geschaffen werden solle für Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen.

Zwerina, der als Lehrer und Bibliothekar in Mittelhessen arbeitet und nebenbei Musik macht, hatte bereits mit 13 Jahren seine erste Netzhautablösung und verlor im Lauf seine Lebens sein Augenlicht komplett. Im Gespräch mit Börsenblatt-Mitarbeiterin Angelika Wagner erläutert Zwerina, wie er mit seinem Erstling gleich bei einem großen Verlag landen konnte, wie er den Roman aufgebaut hat und welche Rolle die Braille-Schrift für ihn selbst spielt.

Den ersten Roman gleich in einem angesehenen großen Verlag zu veröffentlichen, ist vermutlich der Traum eines jeden Schriftstellers. Wie sind Sie zu HarperCollins gekommen?

Thomas Zwerina: Das Werk wurde von dem Literaturagenten Thomas Montasser, den ich über einen gemeinsamen Bekannten her kenne, von München aus verschiedenen großen Verlagshäusern vorgestellt, darunter auch HarperCollins in Hamburg. Verleger Jürgen Welte hat den Titel nach der Lektüre zur Chefsache erklärt und ihn zum Spitzentitel gemacht. Die Geschichte selbst mutet geradezu Hollywood-verdächtig an. Der Roman hat innerhalb kürzester Zeit für Aufmerksamkeit in der Verlagswelt gesorgt.

Lesung Thomas Zwerina

v.l. Evi Lerch, Thomas Zwerina, Angelika Wagner, Anita Odhiambo.

Hat Ihr Manuskript im Lektorat noch einige Veränderungsstufen durchlaufen? Und da Sie sich ja bestens mit Louis Braille auskennen: Haben Sie den Lektoren noch einiges beigebracht ...?

Thomas Zwerina: Im besten Fall lernen immer beide Seiten voneinander, so meine Ansicht. Die Erstausgabe des Romans folgt im Wesentlichen der Urfassung des Manuskripts. Leichte sprachliche Veränderungen seitens des Lektorats sind erfolgt, dabei immer unter Berücksichtigung des von mir gewählten Sprachstils für den Roman, der die Leserschaft ins 19. Jahrhundert  entführt. Der ursprüngliche Romantitel "Für eine Fingerkuppe Freiheit" wurde auf Vorschlag von Jürgen Welte zu "Eine Fingerkuppe Freiheit", für mich ein genialer Schachzug.

Sie haben in Ihrem Hauptberuf auch mit Literatur zu tun - warum spielen Literatur und Kunst eine so große Rolle in Ihrem Leben?

Thomas Zerina: Ganz einfach! Die Kunst und auch die Literatur vermag etwas in uns heraufzubeschören, das ich für essenziell halte – Empathie. Des Weiteren formen Kunst und Literatur ebenso wie die Musik den Rahmen für eine Auseinandersetzung mit uns selbst, unserem Menschsein, und zwar in all der Universalität unseres Daseins.

Welche Rolle spielt die Braille-Schrift in Ihrem Alltag?

Thomas Zwerina: Ich lese und schreibe Braille seit meinem 17. Lebensjahr. Die Sechs-Punkte-Schrift begleitet mich beruflich wie privat in vielerlei Ausprägung, bis hin zum Beschriften zahlloser Gewürze in meiner Küche oder den heißgeliebten Unterlagen für die Steuererklärung. Sechs einfache Punkte geben mir Sicherheit und überhaupt die Möglichkeit, meine Gedanken in differenzierter Form zu Papier zu bringen. Brailles Schrift verdanke ich den Umstand, dort stehen zu dürfen, wo ich heute im Leben stehe. Und dennoch: Oft stoße ich an unüberwindbare Grenzen, zum Beispiel durch die Digitalisierung, die den Sehsinn zum Primat allen Handelns erklärt, insbesondere wenn es um die Handhabung von technischen Geräten im Alltag geht. Die Digitalisierung macht mich hinsichtlich meines Kühlschranks oder meines Stromzählers zum unmündigen Bürger. Im Rahmen meiner Lesungen erlebe ich Hotels, in denen die Heizung oder die Dusche über Touchscreens digital zu bedienen sind.

Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, um die Schrift "flüssig" zu beherrschenn?

Thomas Zwerina: Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang vom "taktilen Kontrast" sprechen. Das Zusammenspiel von Papierqualität und Druckbild sind maßgeblich für ein angenehmes Lesen der sechs Punkte. Deshalb präferiere ich beispielsweise den einseitigen Druck. Entscheidend ist auch die Ausgangsposition meiner Hände. Ich richte mich für gewöhnlich im rechten Winkel zur Vorlage aus, um die einzelnen Zeilen präzise ansteuern zu können. Mit der Fingerkuppe meines linken Zeigefingers lese ich zumeist schon ein Stück voraus, vielleicht etwa 10-15 Zeichen, und übernehme dann mit der Fingerkuppe meines rechten Zeigefingers. Bei meinen Lesungen lege ich mir zudem eine rutschfeste Unterlage unter meinen Papierordner, um dem künstlerischen Vortrag die bestmögliche Voraussetzung mit auf den Weg zu geben. Einflussfaktoren sind zudem die Raumtemperatur oder mein allgemeines Befinden. Mit kalten, klammen Fingern liest es sich einfach weniger gut. Man klebt dann förmlich fest. Es ähnelt dem Gefühl ungewachster Skier in der Loipe. Rotwein dagegen birgt einen "fließenden" Effekt – zu fließend, für mein Gefühl!

Wie kamen Sie auf die Idee, das Leben von Louis Braille als Stoff für einen Roman zu nehmen?

Thomas Zwerina: Viele Menschen haben – so meine Erfahrung – von Brailles Schrift schon einmal Notiz genommen, wenige wissen aber um den Gesichtspunkt, dass Braille den Erfolg seiner Schrift nie erfahren durfte. Noch weniger Menschen wissen, das Braille heftiger Widerstand von sehenden Blindenpädagogen für seine Schrift entgegenschlug, einer Schrift, die die von Sehenden bevorzugte Reliefschrift ablösen sollte. Kleine Randbemerkung: Bevor Sie als blinder Mensch heutzutage eine Reliefschrift im Fahrstuhl gefunden und erfasst haben, um das Stockwerk zu wählen, ist der Aufzug schon längst in ein anderes Stockwerk losgefahren, um es einmal salopp zu formulieren. Brailles Erfindung ist genial. Sie passt – anders als die Reliefschriften – unter eine Fingerkuppe; darüber hinaus ist sie hocheffizient. Ich wollte diesem genialen Menschen, der dazu noch mit seinem blinden Mechanikerfreund Foucault gemeinsam den Vorläufer für die mechanische Schreibmaschine entwickelt hat, ein poetisches Denkmal setzen, ein Werk schreiben, das Unterhaltung und literarischen Anspruch miteinander verschränkt.

Lesung Thomas Zwerina

In Windeseile erfasst Thomas Zwerina die Punkte auf dem Papier.

Gab es Momente beim Schreiben, wo Sie gedacht haben: Hmmm, wird das was? Bin ich auf dem richtigen Weg? Oder brauche ich einen ganz anderen "Bauplan" für meinen Roman?

Thomas Zwerina: Hinsichtlich der Romanarchitektur war ich mir recht schnell klar geworden. Ich wollte eine weitgehend chronologische Handlung mit linearem Spannungsaufbau, dessen Spannungsbogen langsam ansteigt, sich dynamisiert und gegen Ende den Höhepunkt erreicht, Letzteres, um eine Fallhöhe zu kreieren. Der Zweifel ist der Zwillingsbruder, die Zwillingsschwester eines Künstlers. Der Zweifel gehört immer dazu. Er lässt uns innehalten, zwingt uns zu Alternativen. Ich habe mich zum Beispiel bewusst für einen Ansatz entschieden, der sich Braille von vielen verschiedenen Seiten von außen nähert, habe ihn und sein Wirken teilweise in anderen Figuren und deren Handlungen gespiegelt. Ich wollte keinen Roman in Ich-Form schreiben, da sich um Braille herum viele verschiedene Konflikte zeigen. Zudem brauchte ich eine erzählerische Distanz, bin ich doch ein gutes Stück selbst von der Materie betroffen. Gleichwohl habe ich mich gefragt, ob die Leserschaft die Ironie verstünde, die dem Werk innewohnt. Der Roman ist ja mit viel sprachlicher Übertreibung ausgestattet. Manch einer nennt das "blumig" und meint die Bildgewalt des Romans. Ich nenne es Poesie und ich will diese Poesie in dieser heutigen Zeit, die angesichts der Durchdigitalisierung der Welt an Farbe einbüßt. Mir war bewusst, dass ich einen Schreibstil gewählt habe, der sich deutlich von gegenwärtigen Tendenzen in der Literatur unterscheidet. Ich bin damit ein erzählerisches Risiko eingegangen und wurde dafür belohnt.

Wie ist die Resonanz der Leser bei den Lesungen?

Thomas Zwerina: Das Publikum liebt genau diesen Aspekt, die Sprach- und Bildgewalt des Romans, das Eintauchen ins 19. Jahrhundert. Insofern sind die Reaktionen durchweg positiv. Bei den Lesungen spüre ich die Sehnsucht der Menschen nach Poesie. Selbst lange im Kulturbetrieb verankert, macht es mich glücklich, dass Menschen nach einer intensiven Lese-Show überrascht, erstaunt und voller Freude aus dem Saal gehen. Was will man mehr als Musiker, Sänger und jetzt auch als Autor!

Sie haben wunderbare Textpassagen, in denen Sie die Atmosphäre und Gerüche so intensiv beschreiben, dass sich der Leser mittendrin wähnt. Woher kommt diese besondere Form der Anschaulichkeit?

Thomas Zwerina:  Ich denke, das hat mit meiner persönlichen Wahrnehmung von Welt zu tun. Durch meine komplette Seheinschränkung wird mein restliches Sinnesspektrum in besonderem Maße aktiviert. Mein Sehen, das sich nach innen verlagert hat, kombiniere ich automatisch mit anderen Sinnen. Die Realität in mir ist sehr bunt. "Eine Fingerkuppe Freiheit" habe ich zeitweise unter dem Eindruck impressionistischer Bilder verfasst, gelegentlich auch in der Vorstellung eines Comics. Ich lebe hinsichtlich meiner Sinneswahrnehmung in einer Art synästhetisch geprägter Parallelwelt mit mir selbst.

Sie haben auch Bühnenerfahrung - könnten Sie sich vorstellen, den Romanstoff in ein Bühnenstück zu adaptieren?

Thomas Zwerina: Durchaus! Ein theaterästhetischer Ansatz liegt ja angesichts der hohen Konfliktgeladenheit des Stoffes auf der Hand. Allerdings ist das eine Frage der Zeit. Der Tag hat nur 24 Stunden, nicht wahr. Ich würde mir die Zusammenarbeit mit einer professionellen Bühne wünschen und könnte hier sicherlich beratend tätig sein, Anregungen geben, zumal ich den Text natürlich in- und auswendig kenne. Auch eine Filmproduktion läge nahe.

Was man einen Autor ja immer fragen muss: Arbeiten Sie bereits an einem weiteren Buch?

Thomas Zwerina: Ja, in der Tat habe ich ein neues Romanprojekt begonnen, das mich herausfordert und mir Laune macht. HarperCollins ist an der Fortführung unserer erfolgreichen Zusammenarbeit interessiert. Aber bis zur Fertigstellung ist noch eine lange Wegstrecke zu gehen. Es bleibt also spannend.

Nach der Lesung: Thomas Zwerina demonstriert an einer Eierschachtel die Systematik der sechs Punkte, die die Brailleschrift ausmacht.