Gastland-Serie: Auf einen Espresso mit ... Nicola Lagioia

"Mamma mia! Ich bin weder Optimist noch Pessimist"

23. Oktober 2024
Nicola Bardola

Zwischen Kriminalroman und Nonfiction-Literatur: Der Schriftsteller Nicola Lagioia hat viele Jahre den Salone Internazionale del Libro di Torino geleitet. Hier spricht er über das Verhalten der neuen Regierung, über seinen aktuellen Roman und über den italienischen Buchmarkt.

v.l.n.r. Andreas Platthaus, Paolo Cognetti und Nicola Lagioia

"Unerträgliche Einschüchterungsversuche"

Als Leiter des Salone Internazionale del Libro di Torino von 2017 bis 2023 hatte Nicola Lagioia zuletzt Schwierigkeiten, sich gegen politische Einmischungen zu wehren. "In einer Demokratie sind es die Bürger, die Intellektuellen, die gegen eine Regierung polemisieren und sie kritisieren. Das ist ein demokratisches Spiel. Schwierig wird es, wenn das Umgekehrte passiert, wenn also die Macht einzelne Schriftsteller:innen angreift. Das sollte nie passieren. Denn das Ungleichgewicht ist total: Ein führender Politiker hat Möglichkeiten, die ein Intellektueller nie hat. Zur Zeit greifen Minister der Regierung einzelne Schriftsteller an. Hier finden unerträgliche Einschüchterungsversuche statt."

Lagioia freut sich sehr, dass in Frankfurt am Main darüber diskutiert wird. "Dadurch passiert auch viel. Im September ist der Kulturminisiter Gennaro Sangiuliano zurückgetreten. Was sein Nachfolger Alessandro Giuli zustande bringt, das gilt es abzuwarten." Den Protestbrief der Autoren hat Lagioia auch unterzeichnet. Und die Reaktionen des Verlegerverbandes AIE findet er ermutigend. Die AIE schickte ihrerseits einen Protestbrief an das Kulturministerium. "Es hat sich gelohnt, hier aktiv zu werden. Ich war mir nicht sicher, ob ich nach Frankfurt kommen sollte. Jetzt freue ich mich sehr, hier zu sein."

"Ob ich Optimist bin, was den Fortgang dieser Auseinandersetzungen betrifft? Mamma mia! Ich bin weder Optimist noch Pessimist. Nicht nur Schriftsteller:innen, auch Institutionen im kulturellen Bereich sollten jetzt sehr aufmerksam sein.“ Für ihn persönlich als Autor habe der Machtwechsel allerdings kaum etwas verändert. Er arbeite eng mit Verlagen zusammen, und die seien frei. Auch Schriftsteller:innen, die sowohl die Linke als auch die Rechte kritisierten, fänden Verlage, vorausgesetzt, ihre Bücher seinen von einer bestimmten Qualität. Aber das Klima habe sich stark verändert: Als Bürger habe er es jetzt mit einer Regierung zu tun, die Widerspruch nicht akzeptiere, die sich über bestehende Gesetze hinwegsetzen wolle, aktuell in der Migrationsfrage.

Nicola Lagioias aktueller Roman "Die Stadt der Lebenden" (btb) hat zahlreiche Preise gewonnen, u.a. den Premio Napoli. Für Krimi-Experte Tobias Gholis: "Ein Meisterwerk von großer Menschlichkeit." 2015 hatte er für "Eiskalter Süden" (Secession) den Premio Strega erhalten. "In Spanien und in Deutschland sorgte 'Die Stadt der Lebenden' für viel Aufsehen. Das sind zwei sehr verschiedene Länder. Das Buch spricht also offenbar ganz verschiedene Kulturen in Europa an. Einerseits hätte dieser darin geschilderte grausame Foltermord überall stattfinden können. Aber er geschah in meiner Nachbarschaft in Rom 2016. Der Roman steht in einer Tradition literarischer Werke, die auf Fiktion verzichten. Sie bilden die Realität ab." Lagioia nennt als Beispiel Carlo Levis 'Christus kam nur bis Eboli'. "Das ist ein literarisches Werk, aber keine Fiktion. In Italien gibt es dazu die lange Tradition einer 'Nonfiction'-Literatur. In diese Reihe ich mich gerne ein.“