Essay

Lesen macht wachsam

5. September 2024
von Helena Koch

Europas Zukunft mitgestalten: Das ist Thema dieses Essays, der die Schnittstellen zwischen Literatur und Politik betrachtet – und als 
Bewerbung für das Zukunftsparlament entstand.     

2024, Berlin, Literaturhaus. Der »Caponeu«-Buchklub hat es sich zum Ziel gesetzt, die Verzahnungen von Literatur und Politik zu betrachten, und an diesem Montag im Januar hat er eine Ansammlung von vielleicht 25 Gästen zusammengebracht. Was sie vereint, ist das Buch in ihren Händen, was sie unterscheidet, alles andere. Alter, Geschlecht, Nationalität. Und doch wollen sie hier und heute gemeinsam über Georgi Gospodinovs »Zeitzuflucht« diskutieren. Dystopische Vision eines Europas, das noch nicht ist, aber sein könnte, literarische Reflexion unserer Zeit. 
 

1924, Berlin, Verlagshaus. Thomas Manns »Zauberberg« wird veröffentlicht. Demokratisches Stimmengewirr, Debatten auf einem Gipfel in der Nähe von Davos. Lesende werden Zeugen von messerscharfen Gedankenaustauschen, die ihre Perspektive auf die Welt gnadenlos infrage stellen, sie alles überdenken lassen. Erörterungen großer Fragen, Reflexionen ihrer Zeit. 

Die Schnittstelle zwischen Literatur und Politik ist immens, und europäische, international angelegte Romane wie der »Zauberberg« und »Zeitzuflucht« stellen das unter Beweis. Sie unterziehen die Gesellschaft ihrer Zeit einer literarischen Prüfung, beobachten, stellen infrage, kritisieren. Indem wir Autoren wie Mann und Gospodinov lesen, können wir an diesen Prozessen teilhaben. Einzige Voraussetzung: eine Lesekompetenz, die ausreicht, uns diese Romane nicht nur mühelos lesen, sondern auch verstehen und hinterfragen zu lassen. Wer kompetent lesen kann, ist in der Lage, sich mit einer Plethora von Themen auseinanderzusetzen, die über den eigenen Erfahrungshorizont und Alltag hinausgehen, die Gegenwart aus bis dato fremden Perspektiven und vor neuen Hintergründen zu betrachten und ­dadurch die eigene Weltsicht kon­stant zu revidieren. Die Aus­ein­andersetzung mit einem diversen Spektrum scharfsinniger und kritisch hinterfragender Literatur führt dazu, dass Lesende in einen gedanklichen Austausch mit der von ihnen konsumierten Literatur treten. Welche Thesen stellt der oder die Autorin hier auf, und unterstütze ich sie? Welche Weltansicht vertritt der Roman, und stimmt meine eigene damit überein? Lesen wirkt intellektuell stimulierend und fordernd. Wer könnte schon nach der Lektüre des »Zauberbergs« noch eine undifferenzierte Sicht auf die Entwicklung Europas vertreten, und wer könnte nach »Zeitzuflucht« die nationalistische Zuwendung einer Gesellschaft hin zur Vergangenheit noch ohne Argwohn betrachten? 

Romane wie »Der Zauberberg« sind essenziell

Lesen macht wachsam und regt zu politischem Diskurs an, der nicht selten auch zu demokratischer Partizipation führt. Und gerade in den jetzigen Zeiten hat diese Fähigkeit der analytischen, reflektierten Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Konflikten mehr denn je an Bedeutung gewonnen. Im Zuge des Medienwandels wird unser kritisches Urteilsvermögen konstant auf die Probe gestellt: Falsch­informationen, reißerische Schlagzeilen, manipulative Videos und Bildunterschriften. Während beispielsweise die zunehmende Nutzung der sozialen Medien einerseits Diskurs fördert, führt sie andererseits auch dazu, dass wir immer mehr passiv konsumieren, anstatt eigenständig aktiv zu denken. So kann es ebenfalls schnell passieren, dass wir das Interesse an reflektierter politischer Mitgestaltung und gesellschaftlichem Engagement verlieren. 
 

Und hier kommt das Lesen von Literatur ins Spiel: Die kritische Auseinandersetzung mit ihr ist einer der Wege, wie wir unser kritisches Reflexionsvermögen und demokratisches Engagement aufrechterhalten können. Sie hilft uns, aktiv zu lesen, anstatt passiv zu konsumieren, und Romane wie der »Zauberberg« und »Zeitzuflucht«, die genau solches politisch wachsame und konstruktive Denken fördern, sind in dieser Hinsicht essenziell. Die Schnittstelle zwischen Literatur und Politik verdient große Beachtung, und das ist einer der Gründe, weshalb ich sehr gern im Juli beim Zukunftsparlament mit dabei wäre – um gemeinsam mit anderen jungen Leuten der Branche an Wegen zu arbeiten, mithilfe von Literatur demokratischen Diskurs zu fördern. 

Demokratisch orientierte Literatur hat 1924, vor 100 Jahren, ihre Leserschaft über existenzielle Fragen ihrer Zeit reflektieren lassen, und sie tut es auch heute, 2024. Werke wie »Zeitzuflucht« und der »Zauberberg« bringen unterschiedlichste Menschen und Meinungen ­zusammen, stärken den demo­kra­tischen Austausch; ebenso tragen selbstverständlich zahlreiche weitere Werke der modernen (sowie auch älteren) Literatur dazu bei. Sie zu lesen, zu verstehen und zu hinterfragen, lässt uns auch die Strukturen unserer gegenwärtigen Gesellschaft aufmerksam und re­flek­tiert betrachten. 

Essenziell dafür ist vor allem eines: die Kompetenz, kritisch zu lesen. Damit mehr Menschen in Literaturhäusern zusammenzukommen, um über Literatur und Politik zu diskutieren, und sich diese Diskussionen anschließend auch nach draußen, in die Welt, verlagern, wo sie unserer Demokratie nützen können. Wie Olaf Scholz es bei der Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2024 so treffend formulierte: Lesen ist die Bereitschaft, die ­»eigene Perspektive infrage zu stellen«. Kurz: die Fähigkeit zur kritischen Reflexion, zu demokratischem Denken, politischer Partizipation.

Essay von Helena Koch

Helena Koch ist Volontärin bei Rowohlt Berlin.

Prämierter Essay

Für das Zukunftsparlament im Juli 2024 haben die 81 Teilnehmer:innen jeweils einen Essay geschrieben – zum Thema »Europas Zukunft mitgestalten«. Helena Kochs Text wurde als einer der drei herausragenden Texte ausgezeichnet.