Lebenskluger Netzwerker und Humanist
Mit 98 Jahren ist der Nestor der Kinder- und Jugendbuchforschung, Klaus Doderer, in Darmstadt gestorben. Er prägte das Fach entscheidend – seine Impulse sind bis heute spürbar. Ein persönlicher Nachruf.
Mit 98 Jahren ist der Nestor der Kinder- und Jugendbuchforschung, Klaus Doderer, in Darmstadt gestorben. Er prägte das Fach entscheidend – seine Impulse sind bis heute spürbar. Ein persönlicher Nachruf.
"Oh, Doderer – this is not a person, this is an encyclopedia!", meinte die Teilnehmerin eines Internationalen Kongresses in Seoul mit großen Augen, als sich Klaus Doderer ihr vorstellte. Dass hinter dem von ihm herausgegebenen mehrbändigen "Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur" ein realer Mensch steckte, sei für sie kaum vorstellbar gewesen, erzählte Doderer später und amüsierte sich königlich. Ein verschmitztes Lächeln, das war so etwas wie ein Markenzeichen von ihm, für Autor:innen mit Humor hegte er stets große Sympathien.
Die großen Namen in der Jugendliteratur wie Erich Kästner, Astrid Lindgren, Friedrich Karl Waechter, Peter Härtling usw., sie kamen alle gern in das Haus im Darmstädter Rodinghweg, weil Klaus und Ingrid Doderer eine weltoffene Herzlichkeit als Gastgeber ausstrahlten, Übernachtungen inbegriffen. Was dort gesprochen und ausgeheckt wurde, würde Bände füllen und hatte so manches literaturwissenschaftliche Projekt zur Folge. Auf demselben Sofa zu sitzen wie James Krüss hat manche Doktoranden anfangs eingeschüchtert, wobei Klaus und Ingrid durch ihre wertschätzende Warmherzigkeit jede Hierarchie im Keim erstickten.
Dieses unbefangene Aufeinander-Zugehen zeichnete den am 16. Juni verstorbenen Klaus Doderer auch als Lehrenden aus: Mit Kreide hielt er auf der Tafel die wesentlichen Punkte kompliziertester Sachverhalte fest, er verstand sie herunterzubrechen, ganz der Volksschullehrer, als der er seine berufliche Laufbahn begonnen hatte, bevor er 1963 an der Frankfurter Goethe-Universität das Institut für Jugendbuchforschung gründete, weltweit das erste seiner Art. Er ermunterte seine Studentinnen und Studenten zu Eigeninitiative – wo andere Professoren verlangten, erstmal zwölf Sekundarwerke zu lesen, bevor man sich zu einer Sache äußerte, meinte Doderer: "Wenn noch keiner geforscht hat: wunderbar! Dann sind Sie der erste!!" Noch unbekanntes Terrain zu erforschen, zu kartieren, die weißen Flecken kleiner werden zu lassen, Wissen zu sammeln, zu bündeln, netzwerken – das war seine Leidenschaft. Und ja, wir waren auch stolz, Doderer-Schüler zu sein.
Das Sich-Auseinandersetzen mit Literatur war für Klaus mit gesellschaftspolitischer Aufklärung verbunden; er forderte den Zugang zum Wissen für alle, ungeachtet seiner Herkunft und sozialer Möglichkeiten, und er sah darin auch einen Baustein, um die Welt ein Stück liberaler, offener zu machen. Die fortwährende Mahnung, selbst zu denken, selbst Schlüsse zu ziehen, anderen nicht auf den Leim zu gehen, das war auch den bitteren Erfahrungen mit der NS-Ideologie geschuldet. Da etwas entgegenzusetzen, das bewegte ihn bis zuletzt; mit Sorge beobachtete er Verharmlosungstendenzen. Überwältigt von grausamen Erinnerungen etwa an die Euthanasieaktionen der Nazis, kamen ihm durchaus im kleinen Kreis Tränen, deren er sich nicht schämte – diese Menschlichkeit schätzten seine Studenten. Klaus verbog sich nie, immer war er authentisch.
Seine Monografien zu Kästner und Krüss usw., seine Standardwerke zu literarischen Gattungen, der Katalog zur Erschließung der Kinderbuchsammlung von Walter Benjamin, all das gehörte wie selbstverständlich zu seinem Arbeitspensum. Was er dabei mit großer Beharrlichkeit schaffte, war, die Kinder- und Jugendliteratur vom Katzentisch zu holen und zu einem vom Rest der Welt als ernsthaft angesehenen Fach in der Germanistik zu machen. Trotz seiner großen Leistungen war ihm jeglicher professorale Dünkel fern; er verstand es, unterhaltsam zu schreiben.
Auch nach seiner Emeritierung 1990 blieb Klaus aktiv, betreute Arbeiten, schrieb, netzwerkte, hielt Vorträge. Begegnungen mit ihm waren stets ein Gewinn, er telefonierte gern, sprach dann etwas lauter wegen seines "Siemens-Ohrs", wie er sein Hörgerät scherzhaft nannte. Nach dem Tod von Ingrid zog er ins Elisabethenstift, liebte es, auf dem Balkon seines Apartments zu sitzen und die Sonne zu genießen, aber ohne Texte, ohne Literatur ging es selbstredend nicht. In den letzten Jahren hängte er sich beim Spazieren gern ein, "manchmal wackeln die Füße ein bisschen", meinte er, aber von seinem Esprit hatte er nichts verloren und von seinem Schalk. Dann blitzten seine Augen. Und er konnte so herrlich lachen, dass es die anderen anstiftete.
Eines der schönsten Bilder von Klaus in meiner Erinnerung ist eine Szene von einer Buchmesse-Party bei Bertelsmann, es wird so um die Jahrhundertwende gewesen sein. Da saßen Verlegerin Heidi Oetinger, Sybil Gräfin Schönfeldt und Klaus Doderer zu später Stunde beim Wein und lachten aus ganzem Herzen, ich bog um die Ecke, sie winkten und sprachen angeregt weiter und lachten, eine ausgelassene Fröhlichkeit. "Was sind wir versackt!", meinte Klaus später, "aber schön war’s!" Die Lücke, die ein so lebenskluger und beredter Literaturwissenschaftler hinterlässt, sie ist groß.
Ich bereichere Ihren Aspekt der Lebensklugheit von Klaus Doderer um eine Begegnung, die vor einigen Jahren im Hotel Vier Jahreszeiten (Vivaldi) in Leipzig stattfand.
Mein inzwischen erwachsener Sohn begleitete mich damals zur Buchmesse, weil er Zeit hatte. Warum hatte er Zeit? Er hatte die Schule abgebrochen ...
Eines Morgens setzte sich Herr Doderer zu uns an den Tisch und freute sich, dass ein junger Mann mit seiner Mutter zur Buchmesse fuhr. Ohne Scheu erzählte ihm mein Sohn, warum er das mache. Ich traute meinen Ohren kaum, Herr Doderer hörte aufmerksam zu. Dann erzählte er meinem Sohn von einer Erfahrung während seiner Kriegsgefangenschaft, die sein Leben verändern sollte. Und, um es kurz zu machen, auch das meines Sohnes.
Im Herbst desselben Jahres begann er wieder zur Schule zu gehen, holte seinen Schulabschluss nach und absolvierte ein Studium. Heute jobbt er hin und wieder bei mir in der Buchhandlung. Über jene Frühstücksszene in Leipzig haben wir noch oft gesprochen.
Danke, Klaus Doderer, für Ihre Lebensklugheit und alles andere, was ich von Ihnen gehört und gelesen habe.