Exklusiv im Börsenblatt

Elena Ferrante: "Darüber schreiben, wie uns die Ausbreitung der Angst verändert"

31. August 2020
Redaktion Börsenblatt

Die italienische Schriftstellerin Elena Ferrante hat sich zum Start ihres neuen Romans "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" Fragen von Buchhändlerinnen und Übersetzerinnen gestellt. Seit Samstag veröffentlichen wir eine Auswahl ihrer Antworten - heute geht es um die eigenen Wurzeln, weibliches Schreiben und wie sich das Corona-Virus auf die Situation der Frauen auswirkt.

"Was mich erschreckt hat, ist die Anfälligkeit des Systems"

Małgorzata Zawieska, Buchhändlerin, Korekty, Warschau, Polen: Sie behandeln in Ihren Büchern ein wichtiges Problem: die Emanzipation der Frau durch die Berufstätigkeit. Wie könnte sich Ihrer Meinung nach das Corona-Virus auf die Lage der Frauen auswirken? Denken Sie, dass es die wirtschaftlichen Unterschiede verschärfen und einige Errungenschaften auf dem Weg zur Emanzipation rückgängig machen wird? Könnte dieses Thema Ihrer Ansicht nach für eine Schriftstellerin interessant sein?

Elena Ferrante: Ich stehe noch ganz unter dem Eindruck der Angst und bin irritiert, wie leicht es war, innerhalb nur weniger Wochen die ohnehin miserablen Lebensbedingungen der Schwächsten auf dieser Welt noch weiter zu verschlechtern. Das Virus interessiert mich dabei nicht besonders. Was mich erschreckt hat, ist die Anfälligkeit des Systems, so sehr, dass ich Schwierigkeiten habe, mich zu äußern. Ich meine, alles wurde abrupt reduziert. An die Spitze der Wertehierarchie ist in ungewöhnlich kurzer Zeit der Gehorsam gerückt. Und die Frauen erhielten noch mehr Befehle als sonst, traditionell dazu bestimmt, sich zurückzunehmen und sich um das sehr physische Überleben der Familie zu kümmern: Nahrung, Kinderbetreuung, Pflege, Einsperren, Sich-Einsperren, und sich dabei für alles schuldig zu fühlen, als hätten sie bisher zu hohe Ansprüche gestellt.
....Vor diesem Hintergrund scheint ein Rückschritt, um sich auf die wichtigsten Kämpfe zu konzentrieren, unausweichlich: Essen, Wasser, ein Dach über dem Kopf, Medikamente. Ja, ich glaube, anstatt über die Ausbreitung der Pandemie zu schreiben, sollte man darüber schreiben, wie uns die Ausbreitung der Angst verändert und hohen Ansprüchen und edlen Bestrebungen ihre Bedeutung nimmt, kurz allem "Tun", das unermüdlich im Gang ist, solange das wirtschaftliche, soziale und kulturelle System den Anschein erweckt, stabil zu sein. Doch ich wiederhole, darüber muss ich noch nachdenken. Im Augenblick geht es darum, dafür zu sorgen, dass die Gleichberechtigung der Frau nicht ausgeblendet wird. Dieses Problem darf als nicht weniger brisant angesehen werden als, zum Beispiel, die Lage der Black and People of Color in den Vereinigten Staaten und als die durch Krieg und Elend verursachten Migrationen.

"Fortgehen ist kein Verrat an den eigenen Wurzeln"

Esty Brezner, Buchhändlerin, Ádraba Book Store, Jerusalem, Israel: Inwieweit kann jemand Ihrer Meinung nach "Neapel hinter sich lassen" oder sich weit entfernt von seinen Wurzeln und von dem ihm bei der Geburt vorherbestimmten "Schicksal" neu erfinden?

Elena Ferrante: Zunächst sei betont, dass Fortgehen kein Verrat an den eigenen Wurzeln ist. Im Gegenteil, wir müssen fortgehen, um Wurzeln für uns beanspruchen zu können und sie zur Grundlage unserer Entwicklung zu machen. Durch unsere Ortswechsel verwandeln wir unsere Körper in gut gefüllte Depots. Das neue Material legt sich auf das ursprüngliche und verändert es, indem es sich mit ihm verbindet, sich mit ihm vermischt. Und wir fächern uns in verschiedene Daseinsweisen auf, wobei wir unsere Identität teils bereichern und teils durch Unterschlagungen ärmer machen. Doch unser Geburtsort hat Bestand. Er ist der Boden, auf dem unsere ersten Erfahrungen angesiedelt sind, die erste Schulung unseres Blicks, die ersten Phantasien und unsere ersten Äußerungen. Dieser Boden erweist sich für uns als umso solider, je vielfältiger unsere Erfahrungen im Anderswo sind. Neapel wäre nicht meine einzige wahre Heimatstadt, wenn ich nicht an anderen Orten, in der Kollision mit anderen, schon früh erkannt hätte, dass ich dort und nur dort schüchtern begonnen habe, "ich" zu mir zu sagen.

"Das historische Produkt männlicher Vorherrschaft"

Das Team der Readings State Library, Melbourne, Victoria, Australien: Was bedeutet es für Sie, wenn Sie die Formulierung "weibliches Schreiben" hören?

Elena Ferrante: Ich nutze diese Frage, um ins Detail zu gehen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man von "weiblichem Schreiben" spricht, aber man sollte es mit Umsicht tun. Da es Erfahrungen gibt, die unbestreitbar weiblich sind, sollte deren mündliche oder schriftliche Schilderung stets einen eindeutig weiblichen Stempel tragen. Aber leider ist das nicht so. Alle Mittel, auf die wir zurückgreifen, um uns auszudrücken, gehören uns kaum, sie sind das historische Produkt männlicher Vorherrschaft, insbesondere die Grammatik, die Syntax, die einzelnen Wörter, selbst das Adjektiv "weiblich" mit seinen verschiedenen Konnotationen. Das literarische Schreiben bildet da offensichtlich keine Ausnahme. Und so kann die Literatur der Frauen gar nicht anders, als sich mühsam aus dem Inneren der männlichen Tradition herauszubewegen, auch wenn sie sich nachdrücklich behauptet, auch wenn sie nach einer eigenen, spezifischen Genealogie sucht, auch wenn sie die Vermischung der Geschlechter und die Nichtreduzierbarkeit sexuellen Begehrens auf festgesetzte Grenzen aufgreift und sich zu eigen macht.
    Sind wir aber deshalb gefangen, dazu verurteilt, faktisch für immer gerade durch die Sprache verdeckt zu werden, mit der wir versuchen, von uns zu erzählen? Nein. Aber wir müssen uns bewusstmachen, dass es ein Trial-and-Error-Prozess ist, uns in diesem Rahmen auszudrücken. Wir müssen ständig von der Voraussetzung ausgehen, dass wir trotz vieler Fortschritte noch nicht wirklich sichtbar sind, noch nicht wirklich hörbar, noch nicht wirklich verständlich und wir unsere Erfahrungen unzählige Male durchmischen müssen wie einen Salat, während wir für Menschen und Dinge neue Stimmen erfinden. Es geht darum, den geheimnisvollen Weg (oder Wege) zu finden, der ausgehend von einem Riss, von einer Abweichung von den bereits vorhandenen Formen zu einem Schreiben führt, das sogar für uns, die daran arbeiten, unvorhersehbar ist.

Morgen wird Elena Ferrante Fragen von Buchhändlerinnen aus Bulgarien, Italien und Kanada beantworten. Die bisherigen Antworten:

"Ich schreibe sehr viel um"

"Der Dialekt zwingt sich in Momenten der Krise auf"

Mehr über die italienische Schriftstellerin finden Sie unter www.elenaferrante.de