Audrey Martel, Buchhändlerin, Librairie l'Ecèdre, Trois-Rivières, Kanada: Inwiefern hat Sie Italien als Schriftstellerin geprägt - oder genauer gefragt: Inwiefern beeinflusst der Ort, an dem Ihre Romane spielen, die Geschichte und das Leben Ihrer Figuren?
Elena Ferrante: Einen wichtigen Teil meiner Erfahrungen habe ich hier in Italien gesammelt. Mit diesem Land ist das verbunden, was mir am Herzen liegt, angefangen bei der Sprache, die ich benutze, seit ich sprechen kann, seit ich lesen und schreiben kann. Aber als Kind fand ich die Realität des Alltags langweilig. Was erzählenswert war, fand nie bei mir zu Hause statt, nie unter meinem Fenster, nie in meiner Sprache oder in meinem Dialekt, sondern anderswo, in England, Frankreich, Russland, in den Vereinigten Staaten, Lateinamerika etc. Ich schrieb exotische Geschichten, die Italiens Geographie und Eigennamen auslöschten. Diese waren mir unerträglich, ich war mir sicher, dass sie jede Erzählung im Keim erstickten.
Die große Literatur, die mich begeisterte, war nicht italienisch, oder wenn sie es war, fand sie Mittel und Wege, um die Italianität von Städten, Personen und Dialekten geschickt zu umgehen. Meine Haltung war kindlich, änderte sich aber nicht, bis ich mindestens zwanzig war. Als ich dann glaubte, genug über die Literatur zu wissen, die ich liebte, begann ich mich für die Literaturtradition meines eigenen Landes zu interessieren, ich lernte, die Bücher, die mich am stärksten beeindruckten, zu nutzen, um mir eine Art Ruck zu geben und über das zu schreiben, was mir bis dahin zu einheimisch, zu national, zu neapolitanisch, zu weiblich, zu persönlich vorgekommen war, um erzählt zu werden.
Heute bin ich der Ansicht, dass eine Erzählung dann funktioniert, wenn sie schildert, was nur du in dir trägst, wenn sie gedanklich in Texten verortet ist, die du geliebt hast, wenn du hier und jetzt schreibst, vor einem Hintergrund, den du gut kennst, und mit einer Fertigkeit, die du erworben hast, als du voller Leidenschaft in der Literatur aller Zeiten und aller Orte gestöbert hast. Mit den Figuren verhält es sich ebenso: Sie werden gehaltlos, wenn du ihnen nicht eine Verknüpfung gibst, die sich mal festzieht und sich mal lockert, ein Band, das man zerschneiden möchte, das aber hält.