Exklusiv im Börsenblatt

Elena Ferrante: "Es ist unmöglich, sich in den Kopf eines anderen Menschen zu versetzen"

2. September 2020
Redaktion Börsenblatt

Warum immer wieder Neapel? Kann sich Elena Ferrante vorstellen, auch über andere Orte zu schreiben? Und mit welcher ihrer Figuren identifiziert sich die Autorin? Auf diese Antworten von Buchhändlerinnen antwortet Ferrante heute im Börsenblatt - womit die kleine Reihe endet.

"Ich schreibe über diese Stadt, auch damit sie mich immer deutlicher sieht"

Elsa Billund, Buchhändlerin, Billunds Boghandel, Fredericia, Dänemark: Weshalb kehren Sie in Ihrem neuen Roman nach Neapel zurück? Was an diesem besonderen Ort verlangt danach, wieder und wieder erzählt zu werden? Können Sie sich vorstellen, irgendwann über einen anderen Ort zu schreiben? Und halten Sie dies für leichter oder für schwerer?

Elena Ferrante: Man kann über jeden Ort schreiben, entscheidend ist, dass man ihn von Grund auf kennt, andernfalls läuft man Gefahr, oberflächlich zu sein. Ich war an vielen Orten, habe seitenweise Notizen gekritzelt. Viele über Kopenhagen, zum Beispiel, und wenn ich möchte, kann ich sie für eine Geschichte verwenden, wie ich es etwa mit Turin gemacht habe, einer Stadt, die ich liebe. Doch ich spüre, dass mir diese Orte nicht gehören, und ich, wenn ich über sie schreibe, dies tue, um sie mir anzueignen. Mit Neapel ist es anders. Neapel ist bereits ein Teil von mir, und ich bin es von ihm. Einen Blick auf Neapel muss ich nicht erst suchen, ich habe ihn von Geburt an. Ich schreibe wieder und wieder über diese Stadt, um sie zu sehen und mich zu sehen, und auch damit sie mich immer deutlicher sieht.

"Auch die männlichen Figuren haben etwas von mir"

Monica Lindkvist, Buchhändlerin, Akademibokhandeln, Stockholm, Schweden: Identifizieren Sie sich mit einer Hauptfigur aus der Tetralogie "Meine geniale Freundin" oder aus dem neuen Roman?

Elena Ferrante: Ich antworte Ihnen mit einer Floskel: Alle Figuren, auch die männlichen, haben etwas von mir. Das ist übrigens zwangsläufig so. Während wir über die Körper der anderen ziemlich viel wissen, ist das einzige Innenleben, das wir wirklich kennen, unser eigenes. Man kann relativ leicht lernen, hinzuschauen und eine bedeutungsvolle Geste einzufangen, ein schiefes Gesicht, die Unverwechselbarkeit eines Ganges, eine Redeweise, einen vielsagenden Blick.
   Dagegen ist es unmöglich, sich in den Kopf eines anderen Menschen zu versetzen. Wer schreibt, dem können ständig Vereinfachungen wie aus einem Psychologie-Ratgeber unterlaufen, und das ist deprimierend. Wir haben nur unseren Kopf, und aus ihm ein bisschen Wahrheit herauszuholen, mit der wir Fiktionen Leben einhauchen können, ist harte Arbeit. In ihm existiert eine lärmende Menge, die zwischen Kollisionen und viel Wirrwarr alles mit allem zusammenzählt. Daher ist das Innenleben der anderen letztlich das stets unzulängliche literarische Resultat (zu viel Geradlinigkeit, zu viel Geschlossenheit, zu viel Logik) einer zermürbenden Selbstanalyse, gestützt von einer blühenden Phantasie.
   Doch Sie haben nach einer Figur gefragt, mit der ich mich identifiziere, und da ich mir vorgenommen habe, möglichst erschöpfende Antworten zu geben, will ich Ihnen sagen, dass mir zur Zeit einige Züge von Tante Vittoria aus dem Lügenhaften Leben der Erwachsenen gefallen. Ich bin nicht sie, aber ganz gewiss bin ich froh, ihre Autorin zu sein.

Elena Ferrante im Börsenblatt

Zum Start ihres neuen Romans "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (Suhrkamp) ist Elena Ferrante auf Fragen von  Buchhändlerinnen und Übersetzerinnen eingegangen. Ihre bisherigen Antworten:

"Ich schreibe sehr viel um"

Mehr über die italienische Schriftstellerin finden Sie unter www.elenaferrante.de