Exklusiv im Börsenblatt

Elena Ferrante: "Der Dialekt zwingt sich in Momenten der Krise auf"

30. August 2020
Redaktion Börsenblatt

Die Schriftstellerin Elena Ferrante hat sich den Fragen von Buchhändlern und Übersetzern gestellt. Heute erzählt Ferrante im Börsenblatt, welche Bücher sie als Teenager verschlungen hat und welche wichtige Rolle der Dialekt für sie spielt.

"Die Gefahr süßlicher Frauenfiguren"

Stefanie Hetze, Inhaberin der Buchhandlung Dante Connection, Berlin: Für Lila und Elena spielt die Lektüre von Louisa May Alcotts "Little Women" eine große Rolle. Welche (anderen) literarischen Figuren haben Sie in Ihrer Jugend fasziniert und stark geprägt?

Elena Ferrante: Darauf müsste ich mit einer langen und wahrscheinlich langweiligen Aufzählung antworten. Sagen wir, ich habe Romane verschlungen, deren weibliche Figuren ein unglückliches Leben in einer ungerechten, grausamen Welt führten, die Ehebruch und andere Regelverstöße begingen, die Gespenster sahen. Als ich zwischen zwölf und sechzehn war, las ich begierig alle Bücher, die einen Frauennamen im Titel trugen: Moll Flanders, Jane Eyre, Tess von d'Urbervilles, Effi Briest, Madame Bovary, Anna Karenina. Und geradezu obsessiv habe ich wieder und wieder Sturmhöhe von Emily Brontë gelesen. So wie dieses Buch die Liebe schildert und dabei übergangslos positive und negative Gefühle vermischt, ist es bis heute ein außergewöhnliches Werk. Die Gestalt der Catherine sollte von Zeit zu Zeit neu interpretiert werden. Das hilft, wenn man schreibt, der Gefahr süßlicher Frauenfiguren aus dem Weg zu gehen.

"Eine Sprache der Flucht"

Marcello Lino, Übersetzer für das Verlagshaus Intrinseca, Rio de Janeiro, Brasilien: In Ihren Romanen spielt der neapolitanische Dialekt eine große Rolle. Für viele Figuren wäre er wahrscheinlich das natürliche Ausdrucksmittel, trotzdem kommt er explizit nur selten vor und wird stattdessen lediglich erwähnt oder durch ein Italienisch mit dialektalen Anklängen ausgedrückt. Könnte man demnach sagen, dass auch Sie stellenweise eine Übersetzung vornehmen, da Sie die Stimmen dieser Figuren im Dialekt hören und sie ins Italienische übertragen?

Elena Ferrante: Natürlich, aber es ist ein lästiges, unbefriedigendes Übersetzen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf das Wesen der weiblichen Erzählerfiguren eingehen, die ich bisher geschaffen habe. In meinen Büchern spricht die "Stimme" einer gebildeten Frau mit neapolitanischen Wurzeln, die den Dialekt gut kennt, seit langem weit weg von Neapel lebt und das Neapolitanische aus schwerwiegenden Gründen als Sprache der Gewalt und der Obszönität empfindet. Ich habe das Wort "Stimme" hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es sich ja keineswegs um eine Stimme handelt, sondern um Geschriebenes. Delia, Olga, Leda, Elena erzählen schriftlich, direkt oder indirekt, und setzen das Italienische dabei als eine Art Sprachbarriere gegen die Stadt ein, aus der sie stammen. Sie haben sich, in verschiedenem Maße, eine Sprache der Flucht geschaffen, der Emanzipation, des Heranwachsens, und sie taten es gegen ihr Dialekt sprechendes Umfeld, das sie in ihrer Kindheit und frühen Jugend geprägt und gequält hat. Doch ihr Italienisch ist instabil. Der Dialekt dagegen ist emotional robust und zwingt sich in Momenten der Krise auf, zieht in die Standardsprache ein und kommt mit seiner ganzen Härte zum Vorschein. Kurz, wenn das Italienische in meinen Büchern zurückweicht und einen dialektalen Klang bekommt, zeigt dies, dass sich Vergangenheit und Gegenwart auch sprachlich auf ängstliche und schmerzhafte Weise vermischen. Für gewöhnlich formuliere ich den Dialekt nicht aus. Ich lasse zu, dass er als möglicher Ausbruch eines Geysirs wahrgenommen wird.

Ferrante im Börsenblatt

Gestern ist Elena Ferrantes neuer Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (Suhrkamp) erschienen. Interviews wird die Autorin keine geben, aber sie hat sich Fragen von Buchhändlern und Übersetzern gestellt. Seit gestern veröffentlichen wir exklusiv im Börsenblatt in deutscher Sprache eine Auswahl von Ferrantes Antworten. Morgen geht es weiter mit Fragen von Buchhändlerinnen aus Israel, Polen und Australien zu den eigenen Wurzeln, weiblichem Schreiben und wie sich die Corona-Krise auf die Situation der Frauen auswirkt.

Die bisherigen Antworten:

"Ich schreibe sehr viel um"

Mehr über die italienische Schriftstellerin finden Sie unter www.elenaferrante.de