Marcello Lino, Übersetzer für das Verlagshaus Intrinseca, Rio de Janeiro, Brasilien: In Ihren Romanen spielt der neapolitanische Dialekt eine große Rolle. Für viele Figuren wäre er wahrscheinlich das natürliche Ausdrucksmittel, trotzdem kommt er explizit nur selten vor und wird stattdessen lediglich erwähnt oder durch ein Italienisch mit dialektalen Anklängen ausgedrückt. Könnte man demnach sagen, dass auch Sie stellenweise eine Übersetzung vornehmen, da Sie die Stimmen dieser Figuren im Dialekt hören und sie ins Italienische übertragen?
Elena Ferrante: Natürlich, aber es ist ein lästiges, unbefriedigendes Übersetzen. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auf das Wesen der weiblichen Erzählerfiguren eingehen, die ich bisher geschaffen habe. In meinen Büchern spricht die "Stimme" einer gebildeten Frau mit neapolitanischen Wurzeln, die den Dialekt gut kennt, seit langem weit weg von Neapel lebt und das Neapolitanische aus schwerwiegenden Gründen als Sprache der Gewalt und der Obszönität empfindet. Ich habe das Wort "Stimme" hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es sich ja keineswegs um eine Stimme handelt, sondern um Geschriebenes. Delia, Olga, Leda, Elena erzählen schriftlich, direkt oder indirekt, und setzen das Italienische dabei als eine Art Sprachbarriere gegen die Stadt ein, aus der sie stammen. Sie haben sich, in verschiedenem Maße, eine Sprache der Flucht geschaffen, der Emanzipation, des Heranwachsens, und sie taten es gegen ihr Dialekt sprechendes Umfeld, das sie in ihrer Kindheit und frühen Jugend geprägt und gequält hat. Doch ihr Italienisch ist instabil. Der Dialekt dagegen ist emotional robust und zwingt sich in Momenten der Krise auf, zieht in die Standardsprache ein und kommt mit seiner ganzen Härte zum Vorschein. Kurz, wenn das Italienische in meinen Büchern zurückweicht und einen dialektalen Klang bekommt, zeigt dies, dass sich Vergangenheit und Gegenwart auch sprachlich auf ängstliche und schmerzhafte Weise vermischen. Für gewöhnlich formuliere ich den Dialekt nicht aus. Ich lasse zu, dass er als möglicher Ausbruch eines Geysirs wahrgenommen wird.