Fachtagung für Leseförderung

"Bücher, die geliebt werden, sind die beste Leseförderung"

29. September 2023
Sofia Lehmann

Leseförderung ist ein viel diskutiertes Thema, spätestens seit den besorgniserregenden Ergebnissen der letzten IGLU-Studie. Sinkende Lesekompetenz und eine stagnierende Bildungsungleichheit zeigen: Lesen muss gefördert werden. Wie das funktionieren kann, wurde am 28. September bei der Digitalen Fachtagung für Leseförderung besprochen.  

Kinder für Bücher begeistern, Lesekompetenzen fördern, mit gezieltem Handeln dort ansetzen, wo es große Defizite gibt: Wie man hier ansetzt, dafür gab es bei der Digitalen Fachtagung für Leseförderung "Begeistert lesen" Anregungen und Perspektivwechsel für interessierte Buchhändler:innen, Verlagsmitarbeiter:innen und Medienschaffende. Veranstaltet wurde die Online-Tagung mit Vorträgen, Diskussionsrunden und Praxissessions durch den mediacampus Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Börsenblatt. Gleich zu Beginn lieferte die Journalistin und Übersetzerin Julia Süßbrich den Schlüssel, der den Zugang zu Nicht- oder Wenigleser:innen öffnen sollte. Süßbrich regte dazu an, die Perspektive der Kinder einzunehmen, die eben ganz eigene Erfahrungen und Startschwierigkeiten beim Lesen mitbringen. Gerade an eigenen Schwächen – sie führte das Beispiel des Schwimmenlernens an – könne man solche Ängste beim Lernen einer neuen Sache auch gut nachvollziehen.  

In die Thematik stieg eine Podiumsrunde ein, bei der fünf Diskutantinnen unter der Moderation von Stefan Hauck (Börsenblatt) besprachen, wie und mit welchen kreativen Mitteln eine Stärkung der Lesekompetenz gelingen kann. Schon die anfängliche Bestandsaufnahme zeigte, wie wichtig der Erwerb von Lesekompetenzen für die Gesellschaft ist. Birgit Hock, die mit ihrem medienpädagogischen Projekt "Ohrenspitzer" Kindern beim aktiven Zuhören unterstützt, machte auf die sinkende Kompetenz beim Zuhören und Verarbeiten von Informationen aufmerksam. Auch Tanja Eger, Buchhändlerin in Baden-Baden (Mäx und Moritz) und Sprecherin der IG Leseförderung, sieht besonders nach Corona große Defizite in der Aufmerksamkeitsspanne der Kinder. In den Familien gebe es eine Lücke zwischen der Alltags- und Versorgungssprache. Dies eröffne ein weites Problemfeld: Man müsse Lesen wieder gesellschaftsfähig machen.  

Der Tenor der Podiumsrunde: Leseförderung ist vielfältig. Dabei können aber auch die engagiertesten Buchhändler:innen Kinder schwer vom Lesen überzeugen, wenn Schulen und Eltern sich zurückhalten. Aber es sei nicht unmöglich – es gibt viele Arten, beim Nachwuchs Lesekompetenzen zu stärken. Zum Beispiel mit altersgerechter Heranführung ans Lesen mit "idealen" Büchern, die Tanja Eger in ihren Redebeiträgen konkretisierte. Auch die Einbeziehung von logopädischem Fachpersonal und aktivierendem Begleitmaterial, wie die Lesekisten des Gerstenberg-Verlags, können dabei helfen, an jedes Kind heranzukommen. Tessloff-Verlagsleiterin Katja Meinecke-Meurer betonte die Wichtigkeit von gut gestalteten Bilder- und Erstlesebüchern. Andrea Deyerling-Baier vom Gerstenberg Verlag stellte dazu folgerichtig fest: "Bücher, die geliebt werden, sind die beste Leseförderung". 

Renate Reichstein von der Agentur Bild & Wort und langjährige Vorsitzende der avj, sprach sich dafür aus, mit den Kindern beim Lesen zur Ruhe zu kommen und sich Zeit zu nehmen. Das funktioniere bereits bei den Allerkleinsten im Pappbilderbuch. Lesen lernen bedeute dabei aber auch Arbeit: "Üben kann mühselig sein, ist aber notwendig …". Üben mit Spaß natürlich, wie Birgit Hock abschließend erinnerte. 

Von Stimmbildung bis zu Veranstaltungskonzepten

In den Praxis-Sessions erhielten die Teilnehmer:innen zahlreiche Ideen, um Kinder von Büchern zu überzeugen, um Buchverkäufe anzuregen und kreativ mit Herausforderungen umzugehen. In einer der Praxis-Sessions stellte Katrin Rüger vom Buchpalast in München mit Moritz-Lektorin Franziska Neuhaus besondere, aber einfach durchzuführende Veranstaltungskonzepte vor, die nach ihrer Erfahrung Kinder jeder Schulform und jedes Leseniveaus zum Mitmachen und Mitgestalten anregten. Alles ist dabei möglich: von bemalten Schaufensterscheiben bis zur Weitererzählung von Geschichten durch Figuren, Pappe und Holzstämmen. Wichtig dabei war Katrin Rüger, bei der Selbstwirksamkeit der Kinder anzusetzen: "Kinder sind Türöffner zur Leseförderung – man muss die Kompetenzen nutzen, die die Kinder selbst mitbringen."

Neben Rüger sprach Fenja Wambold, Dozentin für Kinder- und Jugendliteratur am mediacampus Frankfurt und Buchhändlerin in Mainz, in einer Praxissession über die Einsatzmöglichkeiten von bebilderten Büchern etwa wenn Kinder mehrsprachig aufwachsen. Kerstin Goldenstein und Elfriede Haller vom Dachverband der Alfa Selbsthilfe lenkten Aufmerksamkeit auf funktionale Analphabet:innen und Menschen mit sehr geringer Lesekompetenz. Sie besprachen unter dem Motto "Leseängste nehmen", wie für diese Zielgruppe Buchhandlungen und das Lesen erschlossen werden können. Cornelia Fisch, die Stimm- und Körpercoach sowie Opernsängerin ist, gab praktische Vorlesetipps, um Geschichten lebendig werden zu lassen – sehr nutzwertig. Ralf Schweikart, Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur, besprach die Ergebnisse der IGLU-Studie und eröffnete Perspektiven, um Leseförderkonzepte auszubauen.

"Keine Medienarroganz aufbauen"

Am Nachmittag ging es abwechslungsreich weiter. Neben der zweiten Praxissession gab es unterschiedliche kreative Impulse. Die Synchronsprecherin, Autorin und Lesekünstlerin 2023 Sabine Bohlmann beispielsweise berichtete aus ihren Erfahrungen, die sie in zahlreichen Lesungen vor Schulklassen gesammelt hat. Bei einer Lesung, so erzählte sie, müsse man kämpfen: "Um ein Glas Wasser, aber auch um Aufmerksamkeit." Diese zu erhalten, das funktioniere vor allem durch Lehrer:innen, die mit dem Schaffen von Vorfreude die Lesung bereits im Vorhinein beeinflussen könnten. Praxistipps für erfolgreiches Vorlesen konnte Bohlmann aber auch selbst liefern und las zur Demonstration den Teilnehmenden vor.    

Auch die Einbindung verschiedener Medien kann kindliche Aufmerksamkeit generieren. In ihrem Vortrag am Nachmittag stellte Katja Meinecke-Meurer vom Tessloff-Verlag verlagsinterne Erfahrungen mit Podcasts vor. Man solle "keine Medienarroganz aufbauen", merkte sie an, denn die Umfragewerte seien vielversprechend. Mehr als die Hälfte der Kinder gebe demnach an, nach einer gehörten Podcast-Folge im Buch weiterlesen zu wollen – und es hörten in Deutschland fast 80 Prozent der Kinder wöchentlich Hörspiele. Hier sei also definitiv Raum, um das Interesse an Hörspielen und Podcasts dazu nutzen, zum Buch hinüberzuführen. Auch seien im Bereich Erstlesebücher Sachbücher sinnvoll, weil sie inhaltsreicher als die sonst einfachen Erstlese-Geschichten seien: "Mit vielen Themen aus dem MINT-Bereich bieten die Erstlese-Sachbücher für jedes Kind etwas Interessantes."

Übergreifende Förderung tut not

Diplom-Pädagogin und Vertreterin des Bundesverbands Leseförderung, Manuela Hantschel, stellte die Arbeit des Verbands vor: zum Beispiel das "Warterich"-Regal, in dem Bücher dort aufgestellt werden, wo sonst durch Wartezeiten Langeweile entstehen kann. Oder auch die Wanderbuch-Ausstellung. Hantschel merkte aber auch an, dass noch viel fehle, um wirklich übergreifend fördern zu können. Es müsse dauerhafte staatliche Leseförderung und professionelle lese- und literaturpädagogische Konzepte in allen Einrichtungen geben, so ihre Forderung.

Interessant und lehrreich waren die Momente, die sich aus dem Zusammenspiel erfahrener Buchhändler:innen und der Verlagsvertreter:innen ergaben und neue Impulse für die Teilnehmenden boten. Dabei zog sich die Schlüssel-Metapher von Julia Süßbrich wie ein roter Faden durch die digitale Fachtagung. Verschiedene Schlüssel, die Zugänge zum Lesen schaffen können, wurden gefunden: Ein Schlüssel kann etwa sein, spannende und interessante Geschichten in Büchern zu bieten und so Kinder zum Lesen zu aktivieren. Ein Schlüssel kann aber auch sein, den Ort Buchhandlung an sich als offenen, kreativen Raum zu gestalten, bei dem auch solche Kinder sich wohl fühlen, die eher Angst vor dem Lesen haben und das Gefühl, es nicht zu schaffen. Ein Schlüssel muss zudem sein, Lesekompetenzen übergreifend in Schule und Familie zu fördern. Buchhändler:innen und Medienschaffende können dies unterstützen, indem sie frei nach dem Motto der Tagung ("Begeistert lesen") ihre eigene Begeisterung beim Lesen in ihre Arbeit einfließen lassen.  Und dazu eben, wie Renate Reichstein formuliert hat, "üben – und nochmal üben".