Longlist Deutscher Buchpreis

Divers, relevant, jung, mutig

27. August 2020
Redaktion Börsenblatt

Im Buchhandel trifft die Longlist zum Deutschen Buchpreis auf viel Zustimmung. Hier erklärt die Buchhändlerin Lilly Ludwig, warum sie von der Jury und ihrer Arbeit diesmal besonders begeistert ist.

Die guten Neuigkeiten fingen dieses Jahr beim Deutschen Buchpreis schon bei der Juryverkündung an. Diese Jury deckt die ganze Breite der Buchbranche und des ­Literaturbetriebs ab. Besonders erfreut war ich über die Berufung der Buchhandelskollegin Maria Christina Piwowarski und Chris Möllers, Vertreterin der so wichtigen (unabhängigen) Gegenwartsliteraturszene. 
In diesem Jahr ist der Buchhandel vermutlich ein wenig mehr als sonst darauf angewiesen, einen Titel gewinnen zu ­sehen, den er guten Gewissens vielfach an ein breites Publikum verkaufen kann. Denn was man dem Deutschen Buchpreis zugutehalten muss: Er ist ein Verkaufsgarant. Saša Stanišić schaffte es immerhin, Sebastian Fitzek von Platz 1 der Bestsellerliste zu verdrängen. 
Ein dafür perfekt geeigneter Titel auf der Liste ist für mich Olivia Wenzels »1000 Serpentinen Angst« (S. Fischer). Was unter Literaturkritiker*innen etwas despektierlich als »­Themen, die en vogue sind«, bezeichnet wurde, halte ich für schlicht relevant und notwendig. Intersektionale Rassismus­erfahrungen müssen einem deutschen Publikum (immer noch) erzählt werden, und wenn es auf solch hohem literarischen Niveau geschieht, kann es nichts Besseres geben als einen Preis, der die Leserzahlen nach oben treibt und die Arbeit der Autorin fördert.
Unter uns Buchhändler*innen ist der Deutsche Buchpreis jedes Jahr ein Event, auf das wir mit Tippspielen und Wettlisten hinfiebern. Dass wir meist haushoch mit unseren Vermutungen danebenliegen, tut dem Spaß keinen Abbruch, und wir freuen uns über Überraschungen, die uns unbekannte Titel, Autor*innen und Verlage näherbringen. Wie oft wird man als Buchhändler*in schon wirklich von Büchern überrascht? 
 

 Der Deutsche Buchpreis ist ein Event, auf das wir mit Wettlisten und Tippspielen hinfiebern

Während auf der einen Seite einige Autor*innen auf der Lis­te zu finden sind, die auf dem Buchmarkt seit vielen Jahren etabliert sind (Frank Witzel, Thomas Hettche, Robert Seethaler, Christine Wunnicke), schickt die Jury auch einige Titel ins Rennen, die die große Aufmerksamkeit noch vor sich haben. Mit Deniz Ohde, Olivia Wenzel und Stephan Roiss sind drei Debütromane vertreten, Valerie Fritsch mit ihrem zweiten Roman »Herzklappen von Johnson & Johnson« ist die jüngste Autorin (Jahrgang 1989). Die Kluft zwischen altbewährten Autor*innen und solchen, die Zeitgeschehen und frischen Wind repräsentieren (nicht, dass sich das immer ausschließen muss!), scheint größer zu werden. Ein Balanceakt, den die Jury des Booker Prize mit einem Doppelgewinn im vergangenen  Jahr zu lösen versucht hat und der ihr heuer mit der Nominierung von Hilary Mantel neben einer Vielzahl an diversen und jungen Autor*innen noch einmal droht. Für die Glaubwürdigkeit dieser Nominierungen ist es wichtig, dass diese Titel weit kommen und Stimmen der Literaturkritik diese Bücher nicht als Quotennominierung abtun. Aber: Eine Longlist, die so viele Überraschungen bietet, dass selbst die »FAZ« hätte ­besser googlen müssen, um das Geschlechterverhältnis von 10:10 richtig zu erfassen, ist eine gelungene Longlist.
Ein Titel, den ich schmerzlich auf der Liste vermisse, ist ­Ronya Othmanns Debüt »Die Sommer« (Hanser). Das eindringliche Porträt einer jungen Frau, die zwischen einem Münchner Vorort und dem kurdisch-jesidischen Heimatdorf ihres Vaters aufwächst, lehrt uns viel mehr als nur die Auswirkungen des Arabischen Frühlings auf politischer Ebene.
Liebe Jury, ihr habt tolle Arbeit geleistet. Und für die nächs­ten Jahre: gern noch diverser, noch gesellschaftsrelevanter, noch jünger, noch mutiger!