"Proust" feiert Abschied & Neubeginn

Die Essener Lichtburg strahlte

16. Januar 2025
Matthias Glatthor

Großes Kino bot das "Proust"-Fest zum Abschied von Peter Kolling und Beate Scherzer – mehr als 1.200 Menschen waren in den Filmpalast gekommen. Gleichzeitig konnte das Weiterbestehen der legendären Essener Buchhandlung mit zwei neuen Inhaberinnen gefeiert werden.

Am Ende gab es Standing Ovations

"Mensch, hier ist ja was los", war am Montagabend, 13. Januar, vorm Eingang der Lichtburg in der Essener Fußgängerzone oft zu hören. Die vielen Menschen strömten aber nicht in den neuesten Blockbuster, sondern zum Abschiedsfest von Peter Kolling und Beate Scherzer. Die beiden haben fast zwanzig Jahre lang die renommierte, vielfach ausgezeichnete Buchhandlung "Proust Wörter + Töne", nicht weit weg von Deutschlands größtem Filmpalast gelegen, mit Bravour geführt. Gefeiert wurde aber nicht nur ein Abschied – sondern zur Freude aller auch ein Neubeginn: Seit Januar führen Marion Leibecke und Johanna Leibecke, Mutter und Tochter, die Buchhandlung unter dem neuen Namen "Proust Wörter & Schönes" weiter. Über die geglückte Nachfolge hatte Börsenblatt online bereits berichtet.

Angeregte Gespräche vor einem Schaukasten der Lichtburg mit den Plakaten der Veranstaltung

Peter Kolling und Beate Scherzer begrüßten gut gelaunt die geladenen Gäste selbst an einem Stehtisch hinter der Kino-Kasse, strichen deren Namen in einer Liste ab, legten ihnen bunte Bänder um die Handgelenke (das war für den Sitzbereich und die After-Show-Party wichtig). Im Foyer gab es zur Begrüßung ein Glas Sekt. Zudem wurden zahlreiche Tickets verkauft, sodass nahezu alle 1.250 rot gepolsterten Klappsitze im imposanten Kinosaal besetzt waren. Auf der Leinwand lief zur Einstimmung eine Fotoabfolge mit Impressionen aus rund 20 Jahren "Proust", viele bekannte Autor:innen waren zu sehen – und immer wieder das Team. Die Spannung wuchs.

Peter Kolling und Beate Scherzer begrüßten die geladenen Gäste selbst, strichen die Namen von der Liste ab

Pünktlich um 19 Uhr betrat die Kabarettistin, Schauspielerin und Autorin Gerburg Jahnke die Bühne, die in ihrer unnachahmlichen Art, witzig, forsch und frech, aber nicht zu frech, durch den Abend führte – im grauen Glitzerkleid und mit rosa Boots ("weil sie cool und bequem sind"): "Es ist so eine Freude, so viele Menschen wegen einer Buchhandlung zu sehen".

Jahnke konnte als langjährige Freundin von Beate Scherzer zur Erheiterung des Publikums immer wieder Anekdoten aus der "Proust"-Geschichte und dem scheidenden Duo einstreuen. So las sie etwa aus einem Text vor, den sie für ein frühes Jubiläum von Scherzers Buchaktivitäten verfasst hatte, und der auch die Anfänge des Teams Scherzer und Kolling vor Augen führte. Der Clou dabei: Jahnke nutzte darin nur Wörter, die mit "B" oder "P" anfangen: "Buchladen boomt, Beate braucht Begleitung" – "Passt Peter?". Er passte. 2005 legten die beiden mit "Proust Wörter + Töne" los. In ihrem Text schloss Jahnke: "Bitte bleibt beide bloß beieinander!" Ihr Wunsch wurde erfüllt – "Proust" wurde zu einer Institution in Essen, und nicht nur in Essen. Kolling und Scherzer hätten einen Buchladen erfunden, so Jahnke, in dem eines wichtig ist: Zeit. Zeit, um zu stöbern, Zeit im Café, Zeit für Gespräche.

Es ist so eine Freude, so viele Menschen wegen einer Buchhandlung zu sehen.

Gerburg Jahnke

Die folgenden drei Stunden boten alles, was das "Proust"-Duo ausmachte, was ihre Haltung war – ein launiges, kurzweiliges Programm mit viel Ruhrpott-Feeling, Jazz-Einlagen, aber auch mit ernsten, nachdenklichen Tönen. Marianne Menze, Geschäftsführerin der Lichtburg, hatte den Filmpalast für die Feier zur Verfügung gestellt, tatkräftig mit ihrem Team bei der Planung unterstützt. Eine enge Verbindung mit langer Tradition. "Proust" hatte die Lichtburg für größere Lesungen von Literaturstars wie T. C. Boyle genutzt, und es gab legendäre Kochduelle von Buchhandlung und Kino. Jahnke sprach vielen aus der Seele, als sie sagte: "Essen, Du kannst Dich glücklich schätzen, solche Menschen zu haben."

Den Auftakt des Programms machte Jessica Lehmann, die vor über zehn Jahren eine Ausbildung bei "Proust" absolviert hatte, das Veranstaltungsformat der "Schimmernächte" erfand, und jetzt mit einem Gedicht an ihre Zeit bei Kolling und Scherzer erinnerte und beiden "Glück, Glück, Glück" für die Zukunft wünschte. Es folgte das erste musikalische Zwischenspiel, Smooth Jazz von Musik-Professor Thomas Hufschmidt am Klavier und Sängerin Joyce van de Pol – mit "Smile" und "Skyfall" sorgen sie für viel Beifall. Später spielten noch Stefan Bauer (Vibraphon) und Michael Heupel (Flöte) auf. 

Danach wurde es ernster. Claus Leggewie, der eigentlich mit Navid Kermani (der leider erkrankt war und absagen musste) ein Gespräch führen sollte, machte auf den in Algerien inhaftierten Friedenspreisträger Boualem Sansal aufmerksam, schilderte den Fall, und warb unter anderem eindringlich für die Unterstützung des Börsenverein-Appells "Freiheit für Boualem Sansal!" – eine Unterschriftenliste lag am Ausgang der Lichtburg bereit.

Claus Leggewie macht auf den Fall Sansal aufmerksam: "Da müssen wir etwas tun."

Die Verbindung von "Proust Wörter + Töne" zur Theaterszene wurde durch Schauspielerin Bettina Engelhardt deutlich, Silvia Weiskopf rezitierte mit beeindruckender Performance eine Passage aus Wolfgang Herrndorfs "Bilder deiner großen Liebe".

Eines der vielen Highlights: Silvia Weiskopf lebt eine Passage aus Wolfgang Herrndorfs "Bilder deiner großen Liebe" vor

Vor der Pause war dann Mitmachen angesagt: Till Beckmann und Jenny Ewert rockten den Saal mit einem Proust-Abschiedsquiz, bei dem es um Fragen ging wie: Welche Namen waren noch für die Buchhandlung im Rennen? Gibt es unter der Ladentheke immer Hundekekse? Was ist das Erfolgskonzept von Peter und Beate? (Eine Antwort: "Beide hassen Spiegel-Bestseller-Aufkleber").

Standing Ovations

Ein besonderer Abend war es auch für die syrische Dichterin Linah Atfah, "meine erste Lesung seit dem Sturz des Assad-Regimes". Und sie ergänzte: "Syrien braucht eine Chance. Nach 50 Jahren Diktatur können wir nicht direkt zur Freiheit gehen. Wir brauchen Zeit." Zwei Gedichte trug sie gestenreich auf Arabisch vor, die deutsche Übersetzung sprach Jenny Ewert. Am gesamten Abend war noch mehr beeindruckende, feine oder energische Lyrik zu hören, von Jan Wagner, Lütfiye Güzel ("Gastarbeiterkind liest jetzt", lautete deren erster Satz) und Fritz Eckenga, der tief ins Ruhrpott-Herz einfühlte. Ein großartiger Mix.

Dann war es so weit, Jahnke kündigte an: "Beate, Peter, Ja – Jetzt kommt das alte Paar auf die Bühne." Kolling sagte nicht ohne ein Quäntchen Stolz: "Ich glaube, wir sind die ersten, die hier oben stehen, die alle kennen." "Danke, dass Sie alle hier sind." Dank richteten die beiden an die ihre treue Kundschaft, an Verlage und Vertreter:innen, Autor:innen, Mitarbeiter:innen und Wegbegleiter:innen, darunter auch "der beste Paketbote Essens". Eine lange Aufzählung, die zeigte, wie außergewöhnlich und groß das Netzwerk ist, das die beiden gesponnen haben. Das, so die große Hoffnung, mit den beiden neuen Inhaberinnen, die Grußworte ans Publikum richteten, weiter Früchte tragen wird. "Heute Abend konnte man spüren, was Proust für Essen bedeutet", so Marion Leibecke. Ihre Tochter freut sich, dass die beiden Mitarbeiterinnen Sarah Jäger und Susanne Engling an Bord bleiben.

Dann war Schluss: Peter Kolling und Beate Scherzer ernteten Standing Ovations und Jubel, verteilten Blumen an alle Künsterler:innen, die noch einmal auf die Bühne gekommen waren.

Abschied von "ihrem" Publikum

 

In der "Film-Bar" gibt es dann bei einer After-Show-Party für die geladenen Gäste Häppchen, Getränke und Gespräche zum Ausklang. Kolling und Scherzer war mehr als glücklich und zufrieden mit dem Abend. Was kommt jetzt? Kolling hat mehr Zeit fürs Kino, Scherzer wird sich weiter in der Literarischen Gesellschaft einbringen (hier stehen Verhandlungen zur Verlängerung des Mietvertrags für den Raum an).

Alles in allem ein außergewöhnliches Fest einer außergewöhnlichen Buchhandlung, oder wie es ein Gast in der "Film-Bar" ausdrückte: "Das war der Knaller!"

Ein Besuch beim neuen "Proust"

Zwei Stunden vor der Veranstaltung war Zeit für eine Stippvisite bei "Proust" und den beiden neuen Inhaberinnen. "So langsam sinkt der Adrenalinspiegel", sagte Marion Leibecke. Die Kunden seien begeistert, dass es weitergeht. Ihre Tochter Johanna Leibecke hat ihren Master in Soziologie gemacht und war seit Oktober fast jeden Tag im Laden, um das Geschäft zu lernen.

Kurz vor der Feier in der Lichtburg: Die neuen Inhaberinnen Marion Leibecke (links) und Johanna Leibecke in ihrer Buchhandlung "Proust Wörter & Schönes"

Anfang Januar folgte nun die offizielle Übernahme. Etliche Kund:innen kamen am späten Montagnachmittag herein: "Wir wollten nochmal vorbeischauen, bevor es losgeht in der Lichtburg", und: "Wir sind auch dort". Das sind doch beste Aussichten für die Zukunft von "Proust Wörter & Schönes".

Es geht weiter mit "Proust" in Essen