Wenn man das Zentralgebiet der Ukraine, das Land der Kosaken durchquert und in die postsowjetischen Industriezonen des äußersten Ostens gelangt, wirkt eine ganz andere, eine rauhere, kältere und härtere Form von Phantastik als in den Habsburg-Adaptionen des Westens. Zhadan hat eine äußerst konkrete Sprache dafür entwickelt. Sie ist ironisch, sarkastisch, doppelbödig, und sie wendet sich vor allem auch gegen die pathetische Tradition der Nationaldichtung, gegen das "Heilige". Das ist in der Geschichte der ukrainischen Sprache nichts weniger als eine Revolution.
Durch den russischen Einmarsch in der Krim 2014 und die Besetzung von Teilen des Donbass wurde die Frage nach der ukrainischen Identität plötzlich ganz real. Zhadan reiste mit seiner Band sofort von Charkiw in den Donbass und gab dort Konzerte. Sein großer Roman "Internat" (im Original 2017 erschienen) ist eine unmittelbare Reaktion auf die neue Situation. Er erzählt von den militärischen Auseinandersetzungen im Osten der Ukraine, in den annektierten Gebieten um Donezk und Luhansk, deren Frontverläufe sich auf unübersichtliche Weise verändern. Der Protagonist Pascha, Mitte Dreißig, interessiert sich eher nicht für Politik und versucht, die Ereignisse am besten gar nicht wahrzunehmen. Im Fernseher in seinem Eisenbahnerhäuschen sind aber immer öfter Panzer zu sehen, und als ihm sein Vater befiehlt, seinen dreizehnjährigen Neffen aus dem Internat abzuholen, beginnt eine Zhadan-typische Odyssee.
Erst im leeren Bus registriert Pascha allmählich, dass die Lage ziemlich bedrohlich ist, es gibt Straßensperren und Soldaten mit Maschinengewehren. Die Stadt, in die er unterwegs ist, hat keinen Namen, und die Besatzer werden, in einem fatalistischen Schicksalston, einfach nur "die Neuen" genannt. Pascha gerät immer wieder zwischen die Kampflinien, er sieht ausgemergelte Landschaften, schlägt sich auf aufgeborstenen Straßen durch, schließt sich vagabundierenden Gruppen an und trifft auf versprengte Truppenteile, bis er mit seinem Neffen tatsächlich wieder zuhause eintrifft. Die Sprache entwickelt im Laufe des Romans ein widerständiges Potenzial, und Pascha erlangt inmitten der allgemeinen Verrohung und Verwüstung eine bizarr-surreale Wahrnehmungsfähigkeit. In "Internat" hat Serhij Zhadan, zu einer Zeit, als die Krise im Donbass noch ein lokal begrenzter Konflikt zu sein schien, die Zustände nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine bereits heraufbeschworen und vorweggenommen. Ein visionärer, immer wieder unruhig hochflackernder Roman, der das Bewusstsein seines Helden auf filmische Weise vor Augen führt und hellwach ist. Er handelt von einer Gegenwart, die keineswegs fern und die Gegenwart Europas ist.