Leipziger Buchmesse: Forum Offene Gesellschaft

Raum für Meinungsstreit

28. April 2023
von Michael Roesler-Graichen

Mit dem Forum Offene Gesellschaft hat die Leipziger Buchmesse eine neue Bühne für Debatten eröffnet: Den Auftakt machten zwei Diskussionen zu Meinungsfreiheit und Ukraine-Krieg. Partner des Forums ist die IG Meinungsfreiheit des Börsenvereins.

Auf der Veranstaltung "Die Deutschen, der Krieg und die Medien" diskutierten Gerd Koenen und Harald Welzer. Es moderierte Natascha Freundel (rbb). 

Kontrovers ging es zu im Diskussionsduell zwischen dem Historiker Gerd Koenen und dem Soziologen Harald Welzer am Donnerstag auf der Leipziger Buchmesse. „Die Deutschen, der Krieg und die Medien“ war die Veranstaltung im Forum Offene Gesellschaft betitelt, die von Natascha Freundel (rbb), bekannt aus dem Podcast „Der zweite Gedanke“, moderiert wurde.

Da die Gesprächsrunde als Vorpremiere der Woche der Meinungsfreiheit gedacht war, ergriff zu Beginn Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins, das Wort, um auf die essentielle Bedeutung von Meinungsfreiheit in der Demokratie hinzuweisen. Meinungsfreiheit setze aber Meinungsbildung voraus – im Diskurs.

Die Erwartung, dass sich Koenen und Welzer einen argumentativen Schlagabtausch lieferten, an dessen Ende keine Annäherung der Positionen erkennbar würde, wurde nicht enttäuscht. Welzer blieb bei seiner gemeinsam mit Richard David Precht im Buch „Die vierte Gewalt“ vertretenen These, dass die Medien in den vergangenen Jahren bei Krisenereignissen wie der sogenannten Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg die kollektive Ausbildung einer homogenen Meinung betrieben hätten. Wenn eine einmal eingenommene Position wieder verlassen worden sei, dann ebenfalls im Kollektiv.

Im Fall des Ukraine-Kriegs, um den es fortan gehen sollte, habe es eine offene, liberale Diskussion in den Leitmedien gegeben, die die Breite des politischen Spektrums abgebildet hätte, so Koenen. Zwar habe sich die politische Mitte unter Verwendung des Begriffs der „Zeitenwende“ darauf festgelegt, dass sich Ungeheures ereignet habe – der erste Vernichtungskrieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs - , aber es habe in den Medien immer ein offenes Nachdenken darüber gegeben. Auch die von Welzer vertretene Position sei zu finden gewesen.

Welzer, der als Erstunterzeichner eines Offenen Briefs ein Ende von Waffenlieferungen und den Beginn von Verhandlungen gefordert hatte, wurde von Natascha Freundel gefragt, mit wem man denn verhandeln sollte. Eine Frage, die Welzer abwehrte, um erst einmal seine Gegenposition zu Koenen zu formulieren. Seine These der kollektiven Leitmedien-Formierung sei empirisch belegt: Die Auswertung einer Datenbank mit mehr als 100.000 Pressebeiträgen habe dies klar erwiesen. Als im Januar 2023 die Forderung nach Panzerlieferungen laut geworden sei, habe man geradezu „eine propagandistische Einheit in der Presse“ beobachten können. Eine Aussage, die Koenen postwendend in Zweifel zog.

Normativ gebe es, da waren sich die Kontrahenten einig, keinen Dissens: Russland führe einen unentschuldbaren Angriffskrieg auf die Ukraine und wolle dessen Identität zerstören. Ziel sei die „Entukrainisierung“ (Koenen). Politisch allerdings stehen Koenen und Welzer einander diametral gegenüber:

  • Koenen sieht keine Alternative zu einer starken Verteidigung der Ukraine und zählt die Niederlagen Putins. Man müsse Putin militärisch auflaufen lassen.
  • Welzer befürchtet einen endlosen Abnutzungskrieg, der durch weitere Waffenlieferungen nur verzögert würde. Zudem führe der Westen ein Selbstgespräch und blende aus, dass sich neue Allianzen jenseits des Konflikts in Europa bilden. Problematisch sei auch, dass der Westen kein Kriegsziel formuliere. Ohne dieses habe man aber keine Chance, so Welzer.

Die Diskussion selbst legte offen, wie gereizt der Debattenton ist. Während Koenens Argumente eine Position der (vermeintlichen?) Stärke spiegeln, schien Welzer öfter in die Defensive zu geraten, wurde seine Opposition als Provokation eingeordnet – was er mit deutlichen Worten von sich wies. Den Kritikern des Mehrheitskurses („Die Ukraine muss den Krieg gewinnen!“) wird ihre Skepsis häufig als Schwäche ausgelegt.

Wie auch immer - das ist ein mögliches Fazit der Diskussion zwischen Welzer und Koenen - beide Parteien, Befürworter von Waffenlieferungen wie Verhandlungs-Mahner entgehen nicht einer Aporie: Keine von beiden Seiten kann wissen, welche Position die in historischer Perspektive richtige sein wird – auch wenn es im Moment danach ausschauen mag, dass die „Hardliner“ recht haben. Es bleibt ein argumentatives Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Gut, in einem Land zu leben, in dem solche Kontroversen erlaubt sind.

Die Veranstaltung wurde eröffnet durch die Börsenvereinsvorsteherin Karin Schmidt-Friderichs.

Reemtsma: "Man muss auch abstinent sein können"

Bereits am Vormittag des Messe-Donnerstags hatte Buchmesse-Direktor Oliver Zille das Forum Offene Gesellschaft eröffnet, in dem "drängende Fragen zur Gestaltung der Demokratie“ verhandelt werden sollen. Den Auftakt macht das Panel „Reden wir. Über Demokratie." Es gehe darum, mehr Sichtbarkeit für das Thema zu schaffen, so Zille, der sich bei den Partnern, dem PEN-Zentrum Deutschland, dem VS, der IG Meinungsfreiheit des Börsenvereins, der Bundeszentrale für politische Bildung und anderen bedankte. Seinen ganz persönlichen Dank richtete Zille an Claudia Roth, die auf dem Podium saß – „für ihre finanzielle und emotionale Unterstützung, dafür, dass sie uns immer wieder den Rücken gestärkt haben“. Mit der Staatsministerin für Kultur und Medien diskutierten der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma, die türkische Autorin Sehbal Senyurt Arinli und der afghanische Autor und Journalist Baktash Shiawash, der vor der Machtübernahme durch die Taliban jüngstes Mitglied der afghanischen Nationalversammlung war.

Der afghanische Autor und Journalist Baktash Shiawash und Kulturstaatsminiserin Claudia Roth 

Der Literaturwissenschaftler und Holocaust-Überlebende Guy Stern habe einmal gesagt, so Moderatorin Astrid Vehstedt, Vizepräsidentin des PEN und Beauftragte für das Writers-in-Exile-Programm, die „Demokratie sei eine zarte Pflanze“. „Frau Roth, wo liegt die Stärke der Demokratie?“ „Dass wir hier sind, dass wir frei reden können, dass Bücher und Kritik möglich sind.“ Aber sie sei auch ein „Freiheitsraum, der von uns abhängt“, so Roth. „Ich fürchte, dass wir uns dessen nicht bewusst sind“. Hier gebe es einen „extremen Aneignungsbedarf“. „Das kann ich nicht wegdelegieren, jeder ist für die Demokratie verantwortlich. Wir halten diese Demokratie am Leben“, unterstrich die Kultur-Staatsministerin. Gerade in Zeiten, in der die Demokratie von Gruppen und Parteien angegriffen werde.

Roth sagte, sie habe „leidenschaftlich für diese Messe gekämpft“, denn sie sei auch „ein Ort der Kultur der Demokratie“. Dass Kultur essenziell für die Demokratie sei, mache der Ukraine-Krieg deutlich, in dem der Aggressor Russland systematisch Kultureinrichtungen in der Ukraine zerstöre.

Jan Philipp Reemtsma, gefragt, ob Deutschland das bestmögliche Modell der Demokratie habe, war nicht ganz einverstanden mit Claudia Roths Aufforderung, dass jeder in der Demokratie mittun solle. Sie sollte Institutionen haben, die mehrheitlich akzeptiert werden. „Aber, man muss auch abstinent sein können. Niemand muss Mitglied einer Partei sein, man muss nicht die Nachrichten hören.“ Was heiße Verantwortung? Die Leute müssten ihr Leben leben können, und einige müssten sich anstrengen.

Sehbal Arinli, die mit einem Writers-in-Exile-Stipendium in Deutschland lebt, beklagte den schrittweisen Abbau demokratischer Strukturen und der Menschenrechte in der Türkei. Baktash Shiawash, dessen Bruder durch ein Bombenattentat getötet wurde, bezeichnete Afghanistan als Worst-Case-Szenario eines nicht-demokratischen Systems, das Frauen nicht als menschliche Wesen anerkenne und seine Gegner physisch eliminiere.