Deutscher Sachbuchpreis: Interview mit Christina Morina

"Im Osten ist der Begriff der Demokratie sehr ambivalent"

14. Juni 2024
von Michael Roesler-Graichen

Christina Morina leistet mit ihrem Buch "Tausend Aufbrüche" einen wichtigen Beitrag zur politischen Kultur. Wie sich die Auffassungen von Demokratie in West- und Ostdeutschland voneinander unterscheiden, erklärt die Preisträgerin im Interview.

Christina Morina

Ihr Buch "Tausend Aufbrüche" basiert auf einer sehr umfangreichen Quellenbasis. Konnten Sie bei der Auswertung feststellen, dass es im Osten Deutschlands ein anderes Demokratieverständnis gibt als im Westen? Gibt es da eine klare Unterscheidung?

Christina Morina: Es gibt auf beiden Seiten eine große Vielfalt an Vorstellungen, was Demokratie ist oder sein könnte, aber es gibt jeweils eine eigensinnige, eigene Geschichte der Demokratievorstellungen. Die hat in der alten Bundesrepublik mit der gelernten repräsentativen Demokratie zu tun, die sehr stark durch die Grundgesetzordnung geprägt ist. In Ostdeutschland ist der Begriff der Demokratie sehr ambivalent und zwiespältig, weil einerseits die SED behauptete, es gebe in der DDR eine sozialistische Demokratie – eine Art Volksdemokratie, die rein propagandistisch existierte, es andererseits aber auch Positionen gab, die diese offizielle Linie herausforderten und dem etwas entgegensetzten, insbesondere die Auffassung, dass man nicht die „eine“ Partei braucht, die das Land beherrscht, sondern direkte basisdemokratische Verfahren und Einflussmöglichkeiten. Es gibt eine starke basisdemokratische Orientierung, die man in der DDR schon vor 1989 hatte, und die nach 1989 weiter zu beobachten ist. Wahrscheinlich spielt sie bis heute eine signifikante Rolle in der doch so unterschiedlichen Kultur beider Landesteile.

Hat der basisdemokratische Gedanke es begünstigt, dass viele Menschen, vor allem im Osten des Landes, für sich in Anspruch nehmen, auch eine autoritäre Partei zu wählen?

Christina Morina: Ganz so leicht lässt sich dies nicht schlussfolgern. Aber die AfD spielt mit diesem Repräsentationsbegriff der direkten Demokratie. Sie fordert zum Beispiel die Direktwahl des Bundespräsidenten, mehr Plebiszite, mehr Volksabstimmungen – und ich glaube, die Unterstützung, die die AfD in Ostdeutschland zusätzlich erhält, lässt sich teilweise dadurch erklären, dass sie an Vorstellungen anknüpft, die in Ostdeutschland eine besondere Vorgeschichte haben, und die mit dem Übergang in die Grundgesetzordnung keine Verwirklichung fanden. So, wie wir heute unsere Demokratie kennen und leben, ist sie repräsentativ, und hat auf Bundesebene keine plebiszitären Elemente. Das ist ein Bereich, in dem ich glaube, dass die besondere Rolle der ostdeutschen Demokratievorstellungs-Geschichte eine große Rolle spielt.

Die Unterstützung, die die AfD in Ostdeutschland zusätzlich erhält, lässt sich teilweise dadurch erklären, dass sie an Vorstellungen anknüpft, die in Ostdeutschland eine besondere Vorgeschichte haben, und die mit dem Übergang in die Grundgesetzordnung keine Verwirklichung fanden.

Christina Morina

Ist die basisdemokratische Grundorientierung also so eine Art Einfallstor für rechte Theoretiker gewesen?

Christina Morina: Ich bin gar nicht sicher, ob das so bewusst passiert, oder ob es eine Art Nebeneffekt ist, dass diese Argumentation „Wir sind die wahren Volksvertreter, die Regierung übt Verrat am Volk“, dass die Vorstellung, es gebe einen einheitlichen „Volkswillen“, in der ostdeutschen Bevölkerung mehr Resonanz findet. Das ist deshalb so, weil die Vorstellung verbreitet ist, es gebe einen homogenen Volkswillen und vermittelnde Institutionen seien grundsätzlich korrupt. Es gibt eine sehr tradierte Institutionen- und Parteienskepsis in Ostdeutschland, die ja angesichts der früheren SED-„Eliten“ ihre Berechtigung hat.

Was können die Menschen im Westen vom Demokratieverständnis im Osten lernen?

Christina Morina: Grundsätzlich meine ich, dass man immer voneinander lernen kann, und dass es immer lehrreich ist, sich andere Perspektiven zu vergegenwärtigen. Ich finde es interessant, dass die politische Freiheit im Osten auch immer im Zusammenhang mit der sozialen Freiheit gesehen wird. Die sozialen Fragen sind enger mit den demokratiepolitischen Fragen verknüpft als im Westen. Welche Ordnung in einem Land herrscht, hat also immer auch mit der materiellen Ordnung zu tun. Der Wert der Gleichheit wird im Osten immer noch höher gehalten als der Wert der Freiheit. Und wenn sich die Bundesrepublik als sozialer Rechtsstaat versteht, dann ist die soziale Frage und Aufgabe, die darin steckt, etwas, worüber man sich in Ostdeutschland viele Gedanken gemacht hat – und wo es Bezüge gibt, das aufzugreifen und stärker darüber nachzudenken.