Die Freiheit, Fragen zu stellen
Christina Morinas Buch "Tausend Aufbrüche", das gestern den Deutschen Sachbuchpreis erhielt, ist das Buch der Stunde. Gedanken zur Preisverleihung.
Christina Morinas Buch "Tausend Aufbrüche", das gestern den Deutschen Sachbuchpreis erhielt, ist das Buch der Stunde. Gedanken zur Preisverleihung.
Besonders ist an Christina Morinas Buch, dass es mehr als nur ein Buch ist: Es ist ein Projekt der demokratischen Aufklärung, das den Diskurs über die Demokratie fördert - Demokratieförderung im besten Sinne.
Als Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins, am Dienstagabend gegen 18.45 Uhr den Umschlag öffnete, in dem der Name des Preisträgers oder der Preisträgerin stand, wurde es im Kleinen Saal der Hamburger Elbphilharmonie vollkommen still. Wer auch immer die Auszeichnung empfangen sollte, im Grunde hätten alle acht Nominierten den Preis verdient, sagte Jury-Sprecher Stephan Koldehoff (Deutschlandradio). Aber die Wahl fiel auf die Zeithistorikerin Christina Morina und ihr Buch "Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren" (Siedler).
Was nun genau den Ausschlag für diese Entscheidung gab, kann nur ermessen, wer selbst die Dynamik von Jurysitzungen erlebt hat. Sagen lässt sich aber, dass dieses Buch, gerade nach den Ergebnissen der Europawahl, das Buch der Stunde ist. Denn in seiner Dokumentation und Analyse demokratischer Stimmen und Konzepte aus Ost- und Westdeutschland zeigt es sehr deutlich, wie unterschiedlich Demokratie in den Köpfen der Menschen verstanden wird. In den neuen Bundesländern, das zeigt Morina in ihrem Buch, gibt es nach der Erfahrung der DDR-"Demokratie" sozialistischer Prägung eine stark basisdemokratische, plebiszitäre Orientierung, in der der "Volkswille" einen hohen Stellenwert hat. Eine Einstellung, die es auch rechtsextremen Kräften erleichtert hat, den gesellschaftlichen Diskurs mit völkischen Gedanken zu infiltrieren. Besonders ist an Morinas Buch zudem, dass es mehr als nur ein Buch ist: Es ist ein Projekt der demokratischen Aufklärung, das den Diskurs über die Demokratie fördert - Demokratieförderung im besten Sinne.
Ein kleines Spielzeug zum Zeitvertreib bis zur Preisverleihung.
Das sind die nominierten Autor:innen: Roman Köstert, Marcus Willascheck, Frauke Rostalski, Moshe Zimmermann, Jens Beckert, Ruth Hoffmann, Christina Morina, Sebastian Conrad (von links)
Vor der Preisverleihung gibt es von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins (die den Sachbuchpreis ausrichtet) einen Sektempfang im kleinen Kreis der Nominierten.
Wertschätzung für alle Nominierten, die ihrem Thema so viel Zeit und Arbeit gewidmet haben.
Kurzer Plausch vor Beginn der Veranstaltung: Ruth Hoffmann und Moshe Zimmermann
Erst am Tag vor der Preisverleihung entscheidet die Jury - hier Michael Lemling, Michael Hagner, und Sibylle Anderl - welches Buch der Siegertitel sein wird. Eine schwierige Entscheidung, verriet Jurysprecher Stefan Koldehoff später.
Die Nominierten und die Jury saßen auf einem Teilbereich der Bühne.
Jurysprecher Stefan Koldehoff gab aus den Jurydiskussionen nur so viel Preis: "Wir waren völlig frei von irgendwelchen Einflüssen". Die Jury verständigte sich darauf, was ein Sachbuch leisten sollte: Es solle Perspektiven bieten, zu Selbstermächtigung verhelfen, es soll innehalten lassen – und es müsse fehlerfrei sein. "Sachbücher müssen keine Lösungen anbieten. Ein Sachbuch muss den Leser befähigen, sich seine eigene Meinung zu bilden."
Glückwünsche vom Hamburger Senator für für Kultur und Medien. In seinem Grußwort hatte Carsten Brosda betont: "Wir müssen immer wieder neu miteinander vereinbaren, was wir für wahr halten – und das auf einer gesicherten Wissensbasis. Nichts ist gegeben, weil es „immer“ schon galt."
Freude über die Auszeichnung.
Am Verkaufsstand.
„Es scheint, als verlöre das Wort Realität seine Singularität, als lebten wir in verschiedenen Realitäten. Analysen stehen uns rund um die Uhr zur Verfügung, können uns aber auch überfordern. Ein Sachbuch zu lesen, macht uns selbst aktiv. Wir schaffen eine Pause zwischen Reiz und Reaktion." - so Karin Schmidt-Friderichs, Vorsteherin des Börsenvereins.
Als der Siegertitel verkündet wurde, musste Christina Morina erst mal tief durchatmen.
Morinas Dankesrede richtete sich an die Familie - das Buch sei in vielen Überstunden und Gesprächen entstanden. Dank ging auch an Kolleg:innen und Studierende: ihre Korrekturen und Kritik machten das Arbeiten besser. Ein großer Dank ging auch an Lektor Jens Dening (Siedler Verlag) und an den freien Lektor Ludger Ikas.
Katja Gasser, Ressortleiterin Literatur beim ORF, begleitete mit entspannter und aufmerksamer Moderation durch den Abend und gab den Teilnehmer:innen und Zuschauer:innen ein Zitat mit auf den Heimweg: „Nicht Sieg sollte Ziel der Diskussion sein, sondern Gewinn“ (Joseph Joubert)
Christina Morina, die aus Frankfurt an der Oder stammt, dankte nach der Preisübergabe nicht nur der Jury und der Stiftung für Buchkultur und Leseförderung, sondern ganz ausdrücklich ihren Eltern, die ihr immer die Freiheit gaben, Fragen zu stellen. Und sie bedankte sich auch bei ihren Kolleg:innen aus der zeitgeschichtlichen Forschung und für den Austausch mit den Studierenden, ohne den dieses Buch nicht entstanden wäre.
Stephan Koldehoff, von Hause aus Kunsthistoriker, gab den Zuhörern im Kleinen Saal (und im parallelen Livestream) noch den Wunsch für die nächsten Jahre mit, dass im Sachbuch mehr Kultur verhandelt werden könnte. Und er machte noch einmal klar, worin der Zweck von Sachbüchern überhaupt liegt: "Es kann keine Lösungen bieten, aber Menschen dazu befähigen, sich eine eigene Meinung zu bilden."