Deutscher Sachbuchpreis

Die Freiheit, Fragen zu stellen

12. Juni 2024
Michael Roesler-Graichen

Christina Morinas Buch "Tausend Aufbrüche", das gestern den Deutschen Sachbuchpreis erhielt, ist das Buch der Stunde. Gedanken zur Preisverleihung.

Christina Morina 

Besonders ist an Christina Morinas Buch, dass es mehr als nur ein Buch ist: Es ist ein Projekt der demokratischen Aufklärung, das den Diskurs über die Demokratie fördert - Demokratieförderung im besten Sinne.

Als Karin Schmidt-Friderichs, die Vorsteherin des Börsenvereins, am Dienstagabend gegen 18.45 Uhr den Umschlag öffnete, in dem der Name des Preisträgers oder der Preisträgerin stand, wurde es im Kleinen Saal der Hamburger Elbphilharmonie vollkommen still. Wer auch immer die Auszeichnung empfangen sollte, im Grunde hätten alle acht Nominierten den Preis verdient, sagte Jury-Sprecher Stephan Koldehoff (Deutschlandradio). Aber die Wahl fiel auf die Zeithistorikerin Christina Morina und ihr Buch "Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren" (Siedler). 

Nach der Europawahl: das Buch der Stunde

Was nun genau den Ausschlag für diese Entscheidung gab, kann nur ermessen, wer selbst die Dynamik von Jurysitzungen erlebt hat. Sagen lässt sich aber, dass dieses Buch, gerade nach den Ergebnissen der Europawahl, das Buch der Stunde ist. Denn in seiner Dokumentation und Analyse demokratischer Stimmen und Konzepte aus Ost- und Westdeutschland zeigt es sehr deutlich, wie unterschiedlich Demokratie in den Köpfen der Menschen verstanden wird. In den neuen Bundesländern, das zeigt Morina in ihrem Buch, gibt es nach der Erfahrung der DDR-"Demokratie" sozialistischer Prägung eine stark basisdemokratische, plebiszitäre Orientierung, in der der "Volkswille" einen hohen Stellenwert hat. Eine Einstellung, die es auch rechtsextremen Kräften erleichtert hat, den gesellschaftlichen Diskurs mit völkischen Gedanken zu infiltrieren. Besonders ist an Morinas Buch zudem, dass es mehr als nur ein Buch ist: Es ist ein Projekt der demokratischen Aufklärung, das den Diskurs über die Demokratie fördert - Demokratieförderung im besten Sinne.

Christina Morina, die aus Frankfurt an der Oder stammt, dankte nach der Preisübergabe nicht nur der Jury und der Stiftung für Buchkultur und Leseförderung, sondern ganz ausdrücklich ihren Eltern, die ihr immer die Freiheit gaben, Fragen zu stellen. Und sie bedankte sich auch bei ihren Kolleg:innen aus der zeitgeschichtlichen Forschung und für den Austausch mit den Studierenden, ohne den dieses Buch nicht entstanden wäre.

Stephan Koldehoff, von Hause aus Kunsthistoriker, gab den Zuhörern im Kleinen Saal (und im parallelen Livestream) noch den Wunsch für die nächsten Jahre mit, dass im Sachbuch mehr Kultur verhandelt werden könnte. Und er machte noch einmal klar, worin der Zweck von Sachbüchern überhaupt liegt: "Es kann keine Lösungen bieten, aber Menschen dazu befähigen, sich eine eigene Meinung zu bilden."

Besucher:innen nach der Preisverleihung: Gedanken und Gespräche