Stefan Hauck: Der „Telegraph“ hat in England die Geschichte über die Eingriffe in das Werk von Roald Dahl ins Rollen gebracht. Danach ging das Thema durch die ganze Presse. Zu lesen war, was alles in den Büchern verändert wurde und auch, dass nicht nur einzelne Wörter eliminiert, sondern auch Erklärungen hinzugefügt wurden. In „Hexen hexen“ zum Beispiel hat der Verlag ergänzt, dass auch andere Menschen - nicht nur Hexen - Perücken tragen. Es kam immer mehr und immer mehr hinzu. Ich frage mich: Ist das im Sinne des Autors? Nun, Dahl ist tot, wir wissen nicht, ob er diese Ergänzungen so mitgetragen hätte. Fest steht: Herausgekommen ist am Ende ein komplett anderer Dahl als der subversive, den man so kennt. Nach einem großen öffentlichen Aufschrei reagierte der Verlag Puffin Books mit der Ankündigung, zusätzlich eine Neuausgabe zu bringen, die alles so übernimmt, wie es früher war. Den „Ursprungs-Dahl“ kann man sozusagen auch wieder kaufen. Sie kennen Dahls Werk gut, Frau Ludwig und haben einige seiner Bücher ins Deutsche übersetzt. Wenn Sie diese Änderungen betrachten, ist das für Sie dann überhaupt noch Roald Dahl?
Sabine Ludwig: Nein, in einem Interview mit der „Zeit“ habe ich gesagt: „Das ist für mich eine Mogelpackung!“ Denn Dahl steht drauf, aber Dahl ist nicht drin. Denn gerade, was Sie eben sagten, dieses Subversive, das Dahl auszeichnet, dieses ständige Konterkarieren von Erwartungen, das zeichnet Dahl ja aus! Genauso wie seine Überspitzungen: Da sind die Kinder eben „fett“ und „fies“ und ich weiß nicht was noch alles. Auf der anderen Seite gibt es dann aber auch immer das gute Kind, das vielleicht fast schon ein bisschen zu gut ist. Aus den Erfahrungen von Lesungen vor Schulklassen weiß ich: Die Kinder lieben das! Sie lieben die Überspitzung, auch diese Schwarz-Weiß-Malerei. So ist es ja auch im Märchen: Eine extremere Schwarz-Weiß-Malerei kann man sich ja gar nicht vorstellen. Für Kinder ist das unendlich wichtig, vor allem, wenn sie noch klein sind. Nun kommen aber Kritiker, die fordern, man müsse doch Charaktere differenziert darstellen und man müsse zeigen, dass jeder seine guten und seine schlechten Seiten hat. Ja schon, aber bitte nicht in Kinderbüchern, meine ich! Denn diese Grautöne und Schattierungen der Charaktere können Kinder noch gar nicht erfassen.
Stefan Hauck: Es kommt ja immer auf den Zusammenhang an – und der wird leider oft gar nicht gesehen. Stattdessen werden einzelne Sätze rausgenommen und schon ist die Aufregung da, ohne das Werk überhaupt zu kennen. Das finde ich regelrecht beängstigend, wenn sich jeder ein Urteil anmaßt, ohne ein Buch überhaupt gelesen zu haben.
Ralf Schweikart: Bei „Hexen hexen“ ist es ja am Ende so, dass der Junge als Maus endet. Also das ganz große Happy End ist es nicht, aber der Junge ist auch nicht unglücklich damit, verzaubert zu bleiben. Schon beim Lesen vor vielen Jahren habe ich mich gefragt, ob einmal Kritiker sagen werden: „Das ist doch jetzt kein richtiges Happy End, wenn das arme Kind jetzt als Maus weiterleben muss? Das kann man doch Kindern nicht zumuten!“
Stefan Hauck: Aber Kinder mögen ja Verwandlungen, Kinder mögen Extreme! Dass Kinder die tollsten Fantasien ausleben können – ich finde, das ist das mit Schönste, was Kinderliteratur leisten kann. Im Bild wie auch im Text!
"Sie tragen jeden Berg ab und schütten jedes Tal auf"
"Alle Täler sollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel sollen geniedriget werden, und was ungleich ist, soll eben, und was höckericht ist, soll schlicht werden." (Jesaja 40:4)
Viele Grüße, S. Haselbach