Gastland Niederlande & Flandern

Ohne Übersetzerinnen – keine Weltliteratur!

25. März 2024
Nils Kahlefendt

Dass die Niederlande und Flandern, Gastland der Leipziger Buchmesse, eine ganze Programmlinie für die Fährleute der Literatur reservierten, war ein genialer Schachzug. Einige Initiativen möchte man auch hierzulande dringend zur Nachahmung empfehlen. 

Das Motto des Gastland-Auftritts war nicht zu übersehen

Am Übersetzerforum und am Gastlandstand wurde den Übersetzerinnen und Übersetzern der rote Teppich ausgerollt.

Als die Niederlande und Flandern 2016 Gastland der Frankfurter Buchmesse waren, löste das eine Flut von literarischen Übersetzungen, Auftritten und Residenzen aus; rund 250 neue Titel erschienen damals in deutscher Übersetzung. Eine literarische Flutwelle, die seitdem munter weiter rollt: Seit Anfang 2023 bis zu diesem Frühjahr erschienen mehr als 100 deutsche Übersetzungen niederländischsprachiger Literatur. Die Literaturstiftungen aus den Niederlanden und Flandern setzen sich zusammen mit den deutschsprachigen Verlagen dafür ein, den nagelneuen Übersetzungen so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu verschaffen: Die Leipziger Buchmesse bot für dieses Vorhaben die perfekte Bühne. Am Übersetzerforum und am Gastlandstand wurde den Übersetzerinnen und Übersetzern der rote Teppich ausgerollt.

Täglich führte ein interaktiver Mini-Workshop in die Kunst des Übersetzens ein, Übersetzerinnen gaben Einblicke in die einschüchternde Aufgabe, Klassiker (neu) zu übersetzen, verschiedene Organisationen zeigten, wie die Arbeit von Übersetzerinnen von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen werden kann. Immer kamen sympathische Vertreterinnen und Vertreter ihres Berufsstands zu Wort, die offen und ehrlich von den Höhen und Tiefen ihres Berufslebens berichten – und beim Publikum eine regelrechte Charme-Offensive in Sachen Liebe zur niederländischen Sprache und Literatur eröffneten. Und da das Ganze unaufdringlich, aber höchst nachhaltig mit diversen Webangeboten und stapelweise neuem Lesefutter verknüpft wurde, kann man nach vier Tagen nur staunend sagen: Behoorlijk briljant, beste collega's!

Überreichung des Else-Otten-Übersetzerpreises durch Romkje de Bildt, Direktorin der Niederländischen Stiftung für Literatur, an Simone Schroth und Christina Siever (v. l.)

1. Die Fährfrauen

Es war 2014, als der C.H. Beck-Lektor Ulrich Nolte an einer sogenannten Publishers-Tour des Nederlands Letterenfonds, der Literaturstiftung der Niederlande, teilnahm. An einem schönen Abend in der Amsterdamer Keizersgracht, in der Uitgeverij Balans, wurde Nolte fast verschwörerisch von Cheflektor Jan Geurt Gaarland beiseite genommen: "Du, Ulrich, schau mal: Dieses Werk hier ist in alle großen Sprachen übersetzt, aber noch nicht ins Deutsche – wollt ihr das nicht machen?" Als "Zuckerl" ließ Gaarland noch durchblicken, dass schon am Band gearbeitet würde. "Wir haben uns bei der Ehre gepackt gefühlt", sagt Nolte heute, im Übersetzerforum der Leipziger Buchmesse. Dort wird, zehn Jahre, nachdem alles begann, der Else-Otten-Übersetzerpreis an Simone Schroth (*1974) und Christina Siever (*1982) vergeben. Die beiden übersetzten die 2023 bei C.H. Beck unter dem Titel "Ich will die Chronistin dieser Zeit werden" erschienenen Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum, die vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Sie sind, wie das Tagebuch der Anne Frank, ein Standardwerk jüdischer Erinnerungskultur – aber auch große Literatur auf fast 1.000 Seiten. Nach zehn Jahren hat sich ein Kreis geschlossen.

Der mit 5.000 Euro dotierte Else-Otten-Übersetzerpreis wird alle drei Jahre vom Letterenfonds vergeben; ausgezeichnet wird die beste deutsche Übersetzung eines niederländischsprachigen Werks der vorangehenden drei Jahre. Es klingt verrückt, ist aber wahr: Die in Zürich lebende Christina Siever, die den Tagebuch-Part der Ausgabe übernommen hat, und die Brief-Übersetzerin Simone Schroth, die als Dozentin an der Lancaster University in Großbritannien arbeitet, haben sich am Tag vor der Preisvergabe das erste Mal persönlich gesehen – und am Abend trotzdem gleich eine gemeinsame Lesung bestritten. Die Jury lobt besonders, dass die sprachlichen Eigenheiten Hillesums nicht geglättet, sondern "behutsam und mutig zugleich" übertragen wurden. Dabei machen Schroth und Siever ihre Vorgehensweise stets transparent: Sie erklären und begründen die Wege ihrer Recherche, legen die Quellen ihrer Übersetzung offen und liefern für deutsche Leser und Leserinnen notwendige Erläuterungen, die die niederländische Ausgabe vortrefflich ergänzen. Die beiden Frauen, die die Initiative #namethetranslator unterstützen, freuen sich über die Wertschätzung ihrer Arbeit: "Das Beste im Leben kommt unverhofft und als Geschenk", sagt Simone Schroth. "Eigentlich geht der Preis an Etty, wir sind die Fährfrauen. Aber je sichtbarer wir werden, desto besser ist es für das Projekt."

www.vertalingendatabase.nl

Andrea Kluitmann

2. Unbekannt macht unbeliebt: Die Übersetzerglücktournee

Andrea Kluitmann, die als Übersetzerin in Amsterdam lebt und arbeitet, hat alles schon gehört: Übersetzerinnen? Das sind doch diese blassen Gestalten, die in staubigen Dachkammern die Arbeit machen, die längst auch Google Translate oder Chat GPT erledigen könnte? Einmal bekam die Frau, die niederländische Literatur, Graphic Novels, Drehbücher und Theaterstücke ins Deutsche übersetzt, einen ganz besonders krassen Satz mit, nachdem sie ihren Beruf genannt hatte: "Oh, du tippst Bücher in einer anderen Sprache ab?" Vielleicht sind solche Erlebnisse mit daran schuld, das Kluitmann vor mehr als 12 Jahren – gemeinsam mit zwei Kolleginnen – die Übersetzerglücktournee aus der Taufe gehoben hat. Los ging es mit einer Kolumne für das zur Uni Utrecht gehörende Expertisezentrum Literair Vertalen, in der sie laut über eine Lesezeichen-Aktion im Buchhandel nachdachte. Ausgangspunkt war die niederländische Redewendung "Unbekannt macht unbeliebt" – und natürlich sollte es um mehr Sichtbarkeit von Übersetzerinnen und Übersetzern im Sortiment gehen. Die Idee: "Wir lassen für etwa 20 Übersetzerinnen Lesezeichen produzieren, mit Namen, Foto, Kurz-Vita und einem guten Text. In einer Art Guerilla-Aktion besuchen wir Buchhandlungen im ganzen Land und stecken die Lesezeichen in die entsprechenden Bücher. Danach Bier und Wein in Utrecht."

Kurz nachdem der Plan tatsächlich umgesetzt wurde und man einander bei Wein und Bier die spannendsten Übersetzer-Geschichten erzählte, stand plötzlich wieder eine Idee im Raum: Warum damit nicht auf Tour gehen? Und so wurde die Übersetzerglücktournee geboren – von 2011 bis 2022, zwölf Jahre lang, an sechs bis acht Abende im April und Mai, schwärmte man mit drei tollen Vertreterinnen der Zunft in Buchhandlungen aus, die Sortimenter moderierten oder organisierten einen vor Ort bekannten Journalisten. "Wir haben die Übersetzerinnen gebeten, einen für Leserinnen und Leser interessanten Vortrag über ihre aktuelle Arbeit vorzubereiten, möglichst mit Bild- und Tonmaterial, auf jeden Fall mit spannenden Beispielen." Sogar kurze Filme übers Übersetzen sind produziert worden. Prekäre Arbeitsumstände sollten draußen bleiben – schließlich sollte das Ganze ja vom GLÜCK handeln: "Wir wollten zeigen, was an unserer Arbeit so schön, herausfordernd, schwierig und befriedigend ist." Inzwischen haben Kluitmanns Kolleginnen Janne van Beek und Maaike Harkink den Staffelstab übernommen. Einmal, erinnert sich Andrea Kluitmann, sei sie nach ihrer Veranstaltung von einer Buchhandels-Kundin beiseite genommen worden: "Ich werden nie wieder ein Buch lesen, ohne mir über die Qualität der Übersetzung Gedanken zu machen." Auch das ist: Glück.  

In der Übersetzung von Andrea Kluitmann liegt aktuell der Roman "Nachtblüher" von Ananda Serné (Weissbooks) vor.

www.andreakluitmann.nl

Alexandra Koch und Lisa Mensing

3. Projekt Schwob und das Vertalershuis Amsterdam

Der französische Schriftsteller und Übersetzer Marcel Schwob (1867–1905) entdeckte Robert Louis Stevenson für die Franzosen oder übersetzte Oscar Wilde; er hat sich zeitlebens für die Vielfalt der Sprachen und Regionen eingesetzt. Alexandra Koch, in Deutschland geboren, kümmert sich seit 13 Jahren für den Letterenfonds um das Klassiker-Projekt Schwob.nl. Unter dem Claim "Die schönsten vergessenen Klassiker" versucht man, Autorinnen und Autoren, die es zwischen 1880 und 1980/90 in ihren jeweiligen Sprachgebieten zu einigem Ruhm gebracht haben, aber in den Niederlanden – aus welchen Gründen auch immer – nie wirklich angekommen sind, neues Leben einzuhauchen. Gesucht ist, mit anderen Worten, der polnische Kerouac oder ein skandinavischer Salinger. Schwob motiviert Verleger, aktiviert den Buchhandel, gründet Lesezirkel – und fahndet auch selbst nach Titeln und Autoren, die ins Beuteschema passen. Als Alexandra Koch beim Letterenfonds anfing, gab’s gerade den Hype um Fallada, der in die USA und wieder zurückschwappte, zuletzt erschien eine Ausgabe von Ulrich Boschwitz’ Roman "Menschen neben dem Leben" auf Niederländisch. Und es geht immer weiter: In den Weihnachtsferien bekam Koch Post von einem kleinen niederländischen Verlag, der Marie-Luise Scherers "Die Hundegrenze", einen Klassiker der Reportage-Literatur, übersetzen lassen will.

Neben so profanen Dingen wie Fördergeldregelungen für Übersetzungen ins niederländische kümmert sich Alexandra Koch auch um ein anderes Kronjuwel der Letterenfonds-Arbeit – die Amsterdamer Residenz für Übersetzerinnen aus dem Niederländischen. Eben ist das Vertalershuis frisch renoviert worden, jedes der Zimmer ist nach einem anderen niederländischen Autor eingerichtet. Bis zu fünf Übersetzerinnen können dort von mindestens zwei Wochen bis maximal zwei Monate in Ruhe arbeiten, die gemeinsame Küche und eine Bibliothek nutzen. Die Literaturstiftung stützt das Ganze mit einem finanziellen Zuschuss. Es geht letztlich um eine regelrechte Kultur-Aufladung – bis hin zu den fünf großen Tageszeitungen des Landes, die täglich im Briefkasten stecken. Oder der Reise an den Schauplatz des zu übersetzenden Romans. Da Übersetzerinnen und Übersetzer immer auch Kulturvermittler, Literatur-Transporteure sind, werden beim Kaffee im Vertalershuis natürlich auch neue Schwob-Ideen ausgebrütet. Womöglich ist der ungarischen Allen Ginsberg nur einen Wimpernschlag entfernt.

www.schwob.nl

www.vertalershuis.nl

4. Übersetzerinnen ins Rampenlicht!

Im auch schon wieder drei Monate alten 2024 hatte Lisa Mensing bislang, so gesteht sie, "drei freie Tage". Mensing, 1989 geboren, studierte Interdisziplinäre Niederlandistik und Literarisches Übersetzen in Münster und Utrecht. Heute übersetzt sie Prosa, Theaterstücke und Poesie aus dem Niederländischen. Darüber hinaus arbeitet sie als Literaturwissenschaftlerin an der Universität Münster, wo sie sich vor allem übersetzungsrelevanten Themen widmet und Kurse für den Niederlandistik-Nachwuchs gibt. Ein Berufsprofil, mit dem man Im Jahr des Gastlandauftritts der Niederlande und Flanderns einiges reißen kann – wenn man Steher-Qualitäten mitbringt. Die letzten anderthalb Jahre hat Lisa Mensing enorm viel gearbeitet – und auch der tägliche Workshop zu Fragen der Übersetzung, den sie während der Leipziger Buchmesse anbietet, stößt auf großes Interesse. Dennoch denkt sie häufig darüber nach, welche Möglichkeiten es gäbe, ihre Arbeit und die ihrer Kolleginnen sichtbarer zu machen. Dabei ist sie zu einem Schluss gekommen, den sie in einem klaren Satz zusammenfasst: "Es gibt viel Luft nach oben!"

Gute Karten hat man als Übersetzerin, wenn man sich mit 'seiner' Autorin die Bälle quasi zuspielen kann. Mit Gaea Schoeters, deren Roman "Trofee", 2020 bei Querido erschienen und eben unter dem Titel "Trophäe" bei Zsolnay auf Deutsch herausgekommen ist, hat Lisa Mensing unheimliches Glück: Nicht nur gehört das Buch, in dem Spannung und Gesellschaftskritik einmal Hand in Hand funktionieren, zu den bisher meistwahrgenommenen Titeln des Gastland-Jahrs. "Gaea sorgt dafür, dass mein Name immer mitgenannt wird. Wir treten oft als Duo auf!" Merke: Übersetzerinnen sind nicht nur Experten des Buchs, sondern, ja: "Kulturvermittler". Viele Texte werden durch sie an Verlage vermittelt. Sie lediglich als "Produktionsmittel" zu verstehen, springt zu kurz. Eine Grundforderung, die auch Mensing energisch vertritt: Der Name der Übersetzerin, des Übersetzers gehört eigentlich aufs Cover! Die Realität sieht nur allzu oft anders aus: Von den vier Büchern, die Lisa Mensing zum Gaszlandjahr übersetzt hat, trägt nur eines ihren Namen auf der U 1 – kein Zufall, dass es sich um den Indie-Verlag Maro handelt.

Wenn sich Kritikerinnen und Kritiker zur Qualität der Übersetzung äußern, bleibt es häufig beim guten Willen, der sich in der phrasenschweinbewehrten Floskel "kongenial" Raum bricht. Lisa Mensing ist überzeugt, dass sich Know-how an die Kritikerzunft vermitteln lässt. Als Redakteurin von TraLaLit, dem Magazin für übersetzte Literatur betreibt sie regelmäßig "Übersetzungs-Kritik"; in Workshops vermittelt sie, wie man die Qualität einer Übersetzung einordnen kann, ohne notwendig den Original-Text zu kennen. Stimmt der Rhythmus? Das Register? "Es geht häufig um Sachen auf der Stil- und Struktur-Ebene", sagt Mensing. "Wenn es sich gut liest, ist wahrscheinlich auch die Übersetzung gut." Bleibt die Forderung nach fairen Honoraren. Mensing erhält bei Prosa oft zwischen 18 und 22 Euro pro Normseite, Kinder- und Jugendbuch-Übersetzerinnen würden deutlich schlechter entlohnt. Auch hier gilt: "Indie-Verlage setzen häufig die fairsten Verträge auf."

In der Übersetzung von Lisa Mensing liegen derzeit etwa Gaea Schoeters gefeierter Roman "Trophäe" (Zsolnay) oder Caro Van Thuynes Roman "Birkenschwester" (Maro) vor.

https://lisamensing.de

Im Rahmen des Gastlandauftritts Niederlande & Flandern stellt die Interviewreihe Aller Anfang ist schwer Übersetzerinnen niederländischsprachiger Literatur ins Deutsche und ihre Arbeit vor. Der Titel dieser von Hanna Otte geführten, höchst lesenswerten Interviewreihe bezieht sich auf die Herausforderung, die ersten Sätze eines Romans zu übersetzen. Auch ein wunderbares Best-Practice-Beispiel für die Herstellung von Sichtbarkeit.

https://allesausserflach.de/projekte/