Beam me up, Gutenberg!
Digital ist besser? Masken, Melancholie und Blicke in die Branchen-Zukunft: Die 72. Frankfurter Buchmesse ist eröffnet.
Digital ist besser? Masken, Melancholie und Blicke in die Branchen-Zukunft: Die 72. Frankfurter Buchmesse ist eröffnet.
Bis vor kurzem, so meinte Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrem Grußwort, „hätte man eine solche Szene wohl am ehesten bei Margaret Atwood als düstere Dystopie erwartet“. Die an diesem Abend noch häufiger zitierte kanadische Schriftstellerin, Essayistin und Dichterin, 2017 Friedenspreispreisträgerin des Deutschen Buchhandels, die der Eröffnung der 72. Frankfurter Buchmesse per ruckelfreiem Livestream beiwohnte, müsste das wohl bejahen: Die riesige, sonst Platz für 13.500 Gäste bietende Festhalle bis auf ein Häuflein Ehrengäste, Techniker und Fotografen menschenleer, vier große Videoscreens, die „Signale der Hoffnung“, so das Motto des Abends, ganz buchstäblich per Flaggenalphabet sendeten, dazu die protokollarisch ungewohnte Frage, ob die im Laufe der schmucklos choreografierten Feier als Förderin des Buches ausgezeichnete Kulturstaatsministerin Plakette und Urkunde überhaupt berühren darf? Welche Abstände sind bei maskenfreien Gruppenfotos opportun, ohne dass die Frankfurter Polizei Ordnungsgelder kassiert? Die Eröffnung der Messe erfolgte dann nicht, wie 71 Mal zuvor, per donnerndem Hammerschlag – sondern mit einem digitalen Soundteppich, der ein wenig nach Raumschiff Enterprise klang. Beam me up, Gutenberg?
Alle Reden des Abends nahmen die Ambivalenz (früher am Tag fiel das schöne Wort „Ambiguitätstoleranz“) der gegenwärtigen Zeitläufte auf; kein Wunder, ist doch die Buchmesse seit jeher die große Bühne, die das Weltgeschehen spiegelt. Monika Grütters machte in eindringlichen Worten darauf aufmerksam, dass in demokratischen Gesellschaften auch Raum für unliebsame künstlerische Äußerungen sein muss: Die Freiheit des Wortes gerate in Gefahr, wenn „aus politischen oder moralischen Gründen“ die Ächtung einzelner Künstler und ihrer Werke gefordert werde, Bücher „gereinigt“ werden sollen. Relativ unverblümt attackierte Grütters die auch hierzulande grassierende Cancel Culture: „Eine Kunst, die sich auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten festlegen ließe, die das Risiko verletzter Gefühle scheute, die einer bestimmten Weltanschauung diente – eine solchermaßen domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern ihres Wertes berauben.“ Wie es in anderen Weltgegenden zwischen Belarus und Ägypten mit der Freiheit des Wortes steht, werden in den kommenden Tagen Netz-Veranstaltungen des Börsenvereins genauer untersuchen, etwa bei einer Diskussion mit Joshua Wong, dem Aktivisten der Hongkonger Friedensbewegung, oder einem Podium, das sich der Frage widmen wird, wie im digitalen Raum demokratische Debatten gelingen können.
Eine Kunst, die einer bestimmten Weltanschauung diente, eine solchermaßen domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern ihres Wertes berauben.
Monika Grütters
Buchmessedirektor Jürgen Boos wurde von 3sat-Kulturzeit-Moderatorin Vivian Perkovic ins Gespräch gebracht; auch diese Inszenierung ein Novum – das tastende Frage-Antwort-Spiel scheint der volatilen Gesamtsituation in Zeiten der Pandemie am Ende angemessener als markig vorgetragene Gewissheiten. „Es war ein anstrengendes Jahr“, so Boos. „Wir haben uns immer wieder neu erfunden, mindestens vier Buchmessen geplant, und am Ende noch eine digitale. Nun probieren wir das aus. Um zu lernen, noch stärker für das Buch zu trommeln.“
Boos weiß, dass Kultur immer auch ein wenig Chaos braucht – das wird er heuer vermissen. „Der digitale Raum ist immer sehr fokussiert, da kommt das Chaos zu kurz. Außer, die Technik funktioniert nicht.“ In den bizarren Wochen des Homeoffice, an digital verlängerten Tagen rund um die Welt, hat der Messe-Chef viel über die Resilienz der Buchbranche gelernt. Boos hofft auf das große Wiedersehen im kommenden Jahr – und ahnt doch, dass er, länger als ihm lieb ist, auf die Hilfe des Virtuellen angewiesen sein wird. „Es wird uns helfen, noch größere Kreise zu ziehen, noch weiter in die Welt zu kommen, noch andere Gruppen anzusprechen – vielleicht sogar noch politischer zu werden.“
Wir haben uns immer wieder neu erfunden, mindestens vier Buchmessen geplant, und am Ende noch eine digitale. Nun probieren wir das aus.
Juergen Boos
Auch Börsenvereins-Vorsteherin Karin Schmidt-Friderichs beschwor in ihrer ersten Messe-Eröffnungsrede die Widerstandskraft der Branche. Und auch sie benannte einen nicht leicht aufzulösenden Widerspruch: Ein Satz wie „Wir brauchen die physische Frankfurter Buchmesse“ stand da dicht neben „Es wird nach Corona kein Back-to-normal geben.“ Sich immer neu erfinden, besser werden, liege seit 1949 in der DNA der Frankfurter Buchmesse – allein könne sie das aber nicht. Aussteller, Fachbesucher, all die Transporteure der Literatur, brauche die Messe jedoch nicht als Mieter von Flächen und brave Ticket-Käufer: „Die Frankfurter Buchmesse braucht Sie als Sparringspartner auf Augenhöhe!“
Die Frankfurter Buchmesse braucht Sie als Sparringspartner auf Augenhöhe!
Karin Schmidt-Friderichs
Wann, bitte, wird es wieder Zufallsbegegnungen ohne Kontaktnachverfolgung geben? Signale der Hoffnung sendeten Tarek Al-Wazir und Peter Feldmann. Der stellvertretende hessische Ministerpräsident mit burschikosem Witz zur Beruhigung auf dem Markt für Toilettenpapier („Ein Papierprodukt, das NICHT digitalisiert wird!“) und einer hessischen Spruchweisheit („Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist!“). Frankfurts Oberbürgermeister, der am Main gerade die Sperrstunde verhängen musste, im Beschwörungston: „Wir kommen wieder, so wie wir es gewohnt sind.“
Justin Trudeau und David Grossmann wurden per Videobotschaft in die Frankfurter Festhalle gestreamt. Der Ministerpräsident Kanadas, des diesjährigen Ehrengasts der Messe, kann sich über mehr als 200 neu ins Deutsche übersetzte Bücher freuen – und auf 2021, wo der physische Auftritt des Gastlands nachgeholt werden soll. Mit Gastland-Pavillon, Gedrängel und all den anderen herrlichen Unarten, die Monika Grütters so vermisst.
David Grossman, der israelische Schriftsteller und Friedensaktivist, zitierte in seinem Haus nahe Jerusalem den jiddischen Dichter Abraham Sutzkever, einen Überlebenden des Wilnaer Ghettos. Der habe berichtet, wie er beim Durchqueren eines Minenfeldes die Melodie eines Gedichts memorierte – und so überlebte. Gibt es, so fragt Grossman sich selbst und uns, in Zeiten der Pandemie eine Art Antikörper zum Virus, zur Corona-Realität, auf den nur Schriftstellerinnen und Schriftsteller Zugriff haben? Was das sein könnte, ahnt der 66jährige Autor: „das ist die Kraft unserer Beobachtung, die Art, wie wir die Welt sehen. Das ist das Herz unserer Kunst.“