Kein Zweifel, Berlin ist eine Stadt der Weltliteratur − und realer Lebensort hunderter internationaler Autoren und Übersetzer. Nicht nur Stars mit weltweiter Resonanz wie der Russe Wladimir Sorokin oder die Französin Marie N’Diaye haben sich hier niedergelassen. In den letzten Jahren sind junge amerikanische, französische, spanische oder israelische Szenen mit eigenen Blogs und Lesereihen entstanden; die Präsenz osteuropäischer Literaturen hat eine lange Tradition.
Kaum bemerkt von einer breiteren Öffentlichkeit werden etwa ein schwedischer, ein mazedonischer oder ein vietnamesischer Verlag von Berlin aus gesteuert; der israelische Übersetzer Gadi Goldberg, der in Friedrichshain arbeitet, hat eben die Gründung eines hebräischen Verlags angekündigt. writers@berlin, der neue Bereich des Portals literaturport.de, der am Wochenende − begleitet von einem Gartenfest, Lesungen und Diskussionsrunden am Wannsee und einer opulenten Doppelseite im "Tagesspiegel" − online ging, will die internationalen Literaturszenen kartographieren, die Akteure und ihre Schauplätze sichtbar und zugänglich machen. Dass die Zeit für ein solches Projekt reif ist, zeigte bereits das Festival Stadtsprachen (2016), aus dem sich inzwischen ein Online-Magazin für die vielsprachige Gegenwartsliteratur Berlins entwickelt hat.
Who’s who der internationalen Autoren-Szene Berlins
Betrieben wird der Literaturport, 2008 mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet, seit 2006 vom Literarischen Colloquium Berlin (LCB) und dem Brandenburgischen Literaturbüro. Die Idee zu writers@berlin hatten Jürgen Jakob Becker, stellvertretender Geschäftsleiter des LCB und am Haus Leiter des Schwerpunkts Übersetzerförderung, sowie die literaturport.de-Verantwortliche Claudia Schütze bereits vor über zwei Jahren. Möglich wurde die Umsetzung durch den umfassenden technisch-grafischen Relaunch des Portals im Jahr 2015 – sowie dank einer Förderung durch den Hauptstadtkulturfonds. Der neue Bereich writers@berlin, der zweisprachig (Deutsch und Englisch) konzipiert ist, umfasst drei Rubriken: Ein Personenverzeichnis, das an das inzwischen 1.400 Einträge umfassende Autorenlexikon des Portals angelehnt ist, Überblicke zu einzelnen literarischen Szenen sowie eine Auswahl von Videoporträts.
Für das Personenverzeichnis haben die LCB-Macher 340 in Berlin lebende internationale Autoren, Übersetzer und Multiplikatoren angeschrieben, aktuell sind Informationen zu 82 von ihnen abrufbar – weitere werden folgen. Jeder Eintrag umfasst einen kurzen Steckbrief, eine Vita, ein Kurzinterview in sechs Fragen zu Biografie, Lieblingsorten, Lebens- und Schreibumständen, sowie einen Überblick zu Werk und Preisen.
Sprachlinien quer durch die Metropole
In der Rubrik Szenen, die Überblicke über Orte und Anlaufstellen bietet, lassen sich einzelne "Sprachlinien" wie auf einem U-Bahn-Netzplan verfolgen. Zum Start sind die türkische (11 Stationen), lateinamerikanische (20), französische (13), arabische (11) polnische (14) und russische (27) Literaturszene vertreten, weitere sind in Planung. Erstellt wurden die sechs Überblicksdarstellungen von Insidern der jeweiligen Szene. Ein besonders gelungenes Beispiel gibt etwa die virtuelle Rundreise durch die türkische Literatur-Community, verfasst von Meneske Toprak, die seit 2002 als freie Autorin und Rundfunkjournalistin für Radio Multikulti (RBB) in Berlin und Istanbul arbeitet. Toprak führt den Leser nicht nur an ganz reale Orte wie die Buchhandlung Regenborgen am Kottbusser Tor, den Binooki Verlag oder die Redaktion des deutsch-türkischen Online-Magazins Renk im Friedrichshain, sie hat ebenso einen lesenswerten Essay über das Restaurant-Schiff "Alte Liebe" verfasst, das seinen Ankerplatz an der Havel, aber auch in der türkischen Literatur hat. Weitere Berliner Orte als Literatur-Schauplätze runden das Bild ab, wobei der User hier auch bibliografische Angaben/Cover der erwähnten Bücher nachschlagen kann.
Video-Premiere
In Zusammenarbeit mit der Berliner Produktionsfirma Atlantis Film entstanden zudem neun Videoporträts, in denen Autorinnen und Autoren über ihr Leben, Ihre Arbeit und ihre Lieblingsorte berichten. Die jeweils zehn Minuten langen Videos, die ihre öffentliche Preview am Samstag beim Gartenfest erlebten, sind zugleich die Bewegtbild-Premiere auf literaturport.de. Man steht mit Samanta Schweblin, 1978 in Buenos Aires geboren, am Tresen der Kreuzberger Gloria Bar, begleitet Ricardo Domeneck aus São Paulo ins Atelier eines Künstlerfreundes in Wilhelmsruh oder wandert mit dem Georgier Zaza Burchuladze durch einen Second-Hand-Shop am Frankfurter Tor oder zum alten Flakturm im Humboldthain. In der Summe entsteht aus den eindrucksvollen Schriftsteller-Porträts das Bild einer spannenden multilingualen Weltstadt.
writers@berlin ist ein "work in progress", das auf intelligente wie informative Weise eine lebendige, vielgestaltige und immer internationaler werdende Literatur-Szene abbildet und bei der Vernetzung ihrer Akteure mit dem hiesigen Literaturbetrieb hilft. Nicht nur angesichts weiter anhaltender Migrationsbewegungen ist den Machern des LCB ein langer Atem und weitere Förderung ihres ehrgeizigen Projekts zu wünschen.