Nina George ist hungrig. Die Berliner Autorin ist für eine Lesung aus ihrem neuen Roman nach Hamburg gekommen, unweit des Michels sitzt sie auf der Terrasse ihres Hotels in der Sonne und isst mit Genuss einen Pfannkuchen mit Blaubeeren. Ihr Hunger ist aber ein anderer, tieferer. Nina George ist 44 Jahre alt und erfolgreiche Bestsellerautorin; 26 Bücher hat sie veröffentlicht. In der Branche ist sie zudem als politische Aktivistin bekannt. So engagiert sie sich im PEN-Zentrum Deutschland und im Bundesvorstand des Verbands deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller für das Urheberrecht. Sie gründete die Initiativen "Ja zum Urheberrecht", "Fairer Buchmarkt" und "Netzwerk Autorenrechte". Sie ist VG-Wort-Verwaltungsrätin und Vorstandsmitglied des internationalen Verbunds Three Seas Writers' and Translators' Council. Fast immer, wenn die Stimme der Autoren zu entsprechenden Themen gefragt ist, klingelt bei Nina George das Telefon; bis ins Bundeskanzleramt hat ihr Engagement sie geführt. Wie sie all das neben ihrem Schreiben schafft? Die Autorin lacht: "Wenn das Leben zu Ende ist, möchte ich nicht feststellen, dass ich nicht satt geworden bin."
Nina George ist eine anziehende, charismatische Frau. Sie redet gern und schnell, dabei fliegen ihre Locken in alle Richtungen. Tabus kennt sie nicht: Sexualität, Kinderlosigkeit, die eigenen Stärken oder Schwächen – alles, was Relevanz hat, wird thematisiert. Weil sie kein Blatt vor den Mund nimmt, sind auch einige ihrer Reden als Keynote-Speaker legendär.
Für ihr Leben auf der Überholspur gab es eine Initialzündung: Mit 17 Jahren hatte sie nach einem operativen Eingriff einen anaphylaktischen Schock mit anschließendem Koma, das war eine lebensbedrohliche Situation. Als sie wieder aufwachte, stand fest: "Das Leben ist fragil. Und ich wollte nicht mehr abwarten, sondern sofort rein in dieses Leben."
Für George, die als Einserschülerin kurz vor dem Abitur stand, gab es nun kein Halten mehr: Sie schmiss die Schule und zog nach Augsburg. Ihr Ziel: eine Schauspielausbildung.
Der Plan ging nicht auf, stattdessen begann sie in der Redaktion des "Penthouse"-Magazins zu arbeiten – für eine junge Frau ein ungewöhnlicher Einstieg in den Journalismus. Ihr Lebenshunger gab das Tempo der weiteren Laufbahn vor, er hat George zu der facettenreichen Person gemacht, die sie heute ist: zu der mitreißenden Aktivistin mit dem großen Einsatz für die Rechte der Autorinnen und Autoren. Zur Autorin mit großer Beobachtungsgabe. Zur engagierten Journalistin, Feministin und leidenschaftlichen Genießerin.
Aufgewachsen ist Nina George in Bad Pyrmont. Sie seien arm gewesen, sagt sie, die Kleidung kam manchmal vom Deutschen Roten Kreuz. Den Eltern, die in der Gastronomie arbeiteten, sei es vor allem um eines gegangen: dass die Kinder, zwei Schwestern, "denken können und auf eigenen Beinen stehen". Dass in ihrer Kindheit wenig Geld vorhanden war, erzählt sie beiläufig und ohne großes Bedauern, sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern.
Umso mehr weiß sie aber die finanzielle Unabhängigkeit zu schätzen, die ihr erster Bestseller "Das Lavendelzimmer" 2013 mit sich brachte: 63 Wochen stand der Roman auf der "Spiegel"-Bestsellerliste, in 35 Sprachen wurde er übersetzt.
So facettenreich wie Nina George selbst ist auch ihr Schreiben: Lange bevor der Markt für erotische Literatur boomte, schrieb sie unter dem Pseudonym Anne West Sachbücher und Belletristik zum Thema Sex. "Ich hatte die Klischees aus den Medien, auch aus dem 'Penthouse', satt: Männer wollen immer und Frauen nie? Das konnte ich so einfach nicht stehen lassen!", sagt sie.
Bis heute wird George in jedem Interview darauf angesprochen, die Neugier auf die Frau, die im Schreiben erotischer Literatur keine Hemmungen zeigt, ist groß. "Erstaunlicherweise werden mir die Sexszenen in meinen Büchern öfter vorgehalten als die Leichenberge in meinen Krimis. Es ist schon amüsant, dass auch im Jahr 2018 die Aufgeregtheit noch so groß ist, weil eine Frau über Sex schreibt." Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Autor Jo Kramer, verfasst Nina George außerdem unter dem zweiten Pseudonym "Jean Bagnol" Provence-Krimis. Das Paar hat sich vor rund zwölf Jahren kennengelernt und "drei Monate nach dem ersten Kuss geheiratet". Kinder haben sie nicht. Als Mutter, erzählt George, könne sie nicht tun, was sie unbedingt tun will: "Ich will Künstlerin sein und schreiben." Was eine gute Beziehung ausmacht? Sich gegenseitig Freiheit zu lassen und dennoch nah zu sein – wie beim Tango, ein Tanz, den sie liebt. "Zwei unabhängige Ichs kommen zu einem Wir zusammen, aber keiner stützt oder braucht den anderen." Und es scheint, als habe Nina George für dieses Ideal den richtigen Partner gefunden. Neben der Wohnung in Berlin haben beide ganzjährig ein Haus in der Bretagne gemietet und leben und arbeiten mal gemeinsam an einem und mal entfernt an zwei Orten.
Auch in Nina Georges neuem Roman, "Die Schönheit der Nacht", geht es um Beziehungen, Liebe und Tango. Die Protagonistin Claire ist Verhaltensbiologin und seit 22 Jahren mit ihrem Mann verheiratet. Den Verletzungen ihrer Kindheit ist sie mit einer inneren Versteinerung begegnet. Ihr erwachsener Sohn erlebt gerade den Zauber der ersten großen Liebe, die Ehe seiner Eltern ist an einem anderen Punkt: Der anfänglichen Sucht nacheinander ist längst die Gewöhnung, vielleicht sogar Gleichgültigkeit gefolgt. Claire sehnt sich immer stärker nach Veränderung und wahrhaftiger Begegnung – und trifft die junge Frau Julie. Überraschend lässt diese Begegnung Claires Versteinerung aufbrechen. Die ganz unterschiedlichen Frauen lernen sich selbst und einander in der Bretagne neu kennen. Ihre Geschichte erzählt von dem Mut zur Veränderung, von Leidenschaft, Liebe und davon, dass bei sich selbst ankommen immer auch loslassen heißt.
Jedes Buch verändere seinen Autor, heißt es. "Die Schönheit der Nacht" hat Nina George verändert. "Ich dachte, ich schreibe über Claire", sagt die Autorin beim Essen ihres Blaubeer-Pfannkuchens. Bis sie merkte, dass sie selbst sich diese Fragen stellt: "Wie möchte ich leben? Wer möchte ich jetzt sein?" Viele Jahre lang hat sich George mit Hingabe ins Leben geworfen, die Geschwindigkeit auf der Überholspur war zur Normalität geworden. Beim Schreiben stellte sie fest: Es ist an der Zeit für eine Pause. Eine Erkenntnis, die der 44-Jährigen Angst macht und sie erleichtert – die Konsequenzen daraus hat sie gezogen: "Ich habe mich entschieden, im kommenden Jahr alle meine Ämter aufzugeben."
Laut ausatmend lehnt Nina George sich in ihrem Stuhl zurück. Sie lächelt. Und wie soll es dann weitergehen? "Keine Ahnung. Auch wenn mir das Angst macht, ist es wundervoll." George trinkt einen Schluck Kaffee, setzt die Brille ab, macht eine kurze Pause. "Das, was ich will, ist schreiben." Und dann kommt langsam wieder Fahrt auf, denn der Hunger ist geblieben: "Außerdem kann ich mir eine Buchhandlung vorstellen. Ein Tango-Studio. Sinn machen würde eine neue Plattform für E-Books. Und natürlich eine Initiative gegen den Rechtsruck. Oder die Gründung einer eigenen Partei, einer Kulturpartei ..." George unterbricht sich selbst und lacht. Erst einmal: Pause. Den Sommer über geht es nach Südfrankreich, mit ihrem Mann und Freunden. Sie freut sich darauf.
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