Gedichte können auch heute noch für Aufregung und Kontroversen sorgen. Das zeigt der Streit um Eugen Gomringers "Avenidas" in Berlin und Rudyard Kiplings "If" in Manchester – beide Gedichte wurden von Hochschulwänden entfernt.
Dennoch steht Lyrik im Ruf, nur einen kleinen Leserkreis zu interessieren. "Das Phänomen des Bestsellers gibt es in der Lyrik nicht", stellte Thomas Sparr von Suhrkamp vor einigen Jahren in der "Zeit" fest. Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: 2006 schaffte es Robert Gernhardt mit "Später Spagat" posthum in die Belletristik-Charts, 2015 platzierte sich Jan Wagners preisgekrönter Gedichtband "Regentonnenvariationen" in der Liste.
Erich Kästners "Lyrische Hausapotheke" auf Platz 1
Die von Media Control für den Zeitraum Januar bis Juli 2018 ermittelte Lyrik-Top 25 (im Bestsellerressort auf boersenblatt.net) zeigt, mit welchen Versen das Geld verdient wird: 19 der 25 Titel sind Klassiker. Auf Platz 1 steht "Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke", 1936 erstmals erschienen. "Jährlich verkaufen wir zwischen 7.500 und 10.000 Exemplare", bilanziert Atrium-Verleger Jan Weitendorf von Hacht.
Kästner ist außerdem mit dem Band "Die dreizehn Monate" auf der Liste vertreten, mit gleich sechs Bänden folgt Mascha Kaléko. "Ihre Gedichte sind absolute Dauerseller, die laufend nachgedruckt werden und inzwischen auf eine Gesamtauflage von 450.000 Exemplaren kommen", sagt Thomas Zirnbauer, Pressereferent bei dtv.
Im Januar 2012 passierte es dann trotzdem: Kalékos Titel "Mein Lied geht weiter" (aktuell auf Platz 2) war plötzlich nicht mehr lieferbar. Hatte der Verlag falsch kalkuliert? Des Rätsels Lösung: Im ARD-Film "Der letzte schöne Tag" wurde Kalékos Gedicht "Letztes Lied" so ergreifend bei einer Beerdigungsszene zitiert, dass die Zuschauer den Gedichtband unbedingt haben wollten. "Generell merken wir, dass Kalékos Texte ihre Leser ein Leben lang begleiten", konstatiert Zirnbauer – vielleicht das schönste Kompliment für eine Lyrikerin.