Interview mit Heinrich Detering

"Mit Dylan wird zugleich ein ganzes Genre ausgezeichnet"

14. Oktober 2016
Redaktion Börsenblatt
Dass Bob Dylan mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, hat viele gefreut und nur wenige verwundert. Was der Preis für die Dichtung bedeutet, und worin das wirklich Innovative der Song-Poesie Dylans liegt, erläutert der Literaturwissenschaftler und profunde Dylan-Kenner Heinrich Detering.

Kommt der Literaturnobelpreis für Bob Dylan zur rechten Zeit oder war er nicht längst überfällig?
Diese Auszeichnung kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, nicht nur, weil Dylan in diesem Jahr 75 geworden ist, sondern auch, weil man jetzt allmählich auf ein Lebenswerk zurückblicken kann. Verspätet kommt die Auszeichnung allenfalls für das Genre, das ja mitausgezeichnet wird. Wir sind alle seit Jahrzehnten von Songpoesie umgeben und wissen, dass sie auch eine genuin literarische Kunstform ist und nicht nur eine musikalische. Es war höchste Zeit, auch diese Kunstform auszuzeichnen.

Können Sie die vereinzelt geäußerte Kritik, dass Songpoesie der Dichtung im engeren Sinne nicht ebenbürtig sei, nachvollziehen?
Ich freue mich, dass es nur ziemlich vereinzelt grundsätzliche Kritik an der Auszeichnung gegeben hat. Die Zustimmung ist doch ziemlich einhellig, wie mir scheint. Ich kann verstehen, dass Leute sagen, Dylan sei doch "eigentlich" ein Musiker und als Literaturnobelpreisträger im falschen Film. Dabei handelt es sich aus meiner Sicht aber um ein Missverständnis – um ein ähnliches Missverständnis wie die Annahme, Dylan sei "eigentlich" ein Dichter, der sich gelegentlich eine Gitarre umhängt, um seine Gedichte zu singen. Die ganze Kraft, die ganze Besonderheit von Dylans Werk liegt gerade darin, dass er Poesie, Performance und Musik zu einer unauflöslichen Trias verbunden hat. Seine – schon bei der Lektüre oft eindrucksvollen – Liedtexte gewinnen ihre Einzigartigkeit erst, wenn er sie vorträgt. Aber das ist ja – die Jury hat das auch zum Ausdruck gebracht – die Wiederbelebung einer uralten Tradition der Poesie. Auch was Homer oder die Minstrels des Mittelalters gedichtet haben, war für Gesang und Aufführung bestimmt. Dylan stellt sich bewusst auch in diese Tradition.

In Ihrem im Frühjahr erschienenen Buch über Dylan – "Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele" (C.H. Beck) – haben Sie ja die Bezüge seiner Poesie zur antiken Mythologie nachgewiesen.
Der Witz dabei ist, wie immer bei Dylan, der völlig unangestrengt wirkende Spagat zwischen den weltliterarischen Stimmen einerseits und den Traditionen der amerikanischen Song Poetry andererseits. Ovid und die Country Music, Homer und John Lennon, Petrarca und Sinatra – das geht in Dylans späten Songs zusammen, als sei es eine Selbstverständlichkeit. In dieser Verbindung liegt das wirklich Innovative seines Spätwerks, das hat keiner der zeitgenössischen Song-Poeten so konsequent gemacht wie Dylan.

Heinrich Detering lehrt Germanistik an der Universität Göttingen und ist Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.