Interview mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen

"Wir sind unseren Medienmöglichkeiten mental nicht gewachsen"

9. April 2018
Redaktion Börsenblatt
Hasswellen und Verschwörungsgerede im Netz, twitternde Präsidenten, allgegenwärtige Empörung: Wir sind Zeugen eines kommunikativen Klimawandels. Ein unumkehrbarer Prozess? Boersenblatt.net hat darüber mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, Autor des Buchs "Die große Gereiztheit", gesprochen.         

Der Titel ihres neuen Buchs zitiert das gleichnamige Kapitel aus Thomas Manns "Zauberberg", das am Vorabend des Ersten Weltkriegs spielt. Hat die "große Gereiztheit", die heute als kollektive Erregung und Empörungsdemokratie in Erscheinung tritt, nur mit den medialen Möglichkeiten des Internets zu tun – oder hat sie auch andere Ursachen?
Aus meiner Sicht gilt: Soziale Veränderung ist nie monokausal. Jeder, der den gesellschaftlichen Stimmungswandel auf nur eine einzige Ursache zurückführen möchte, macht sich im Zweifel etwas lächerlich. Ich selbst unterscheide zwischen Ereigniseffekten – Krisen, Kriege, Erfahrungen der Ungerechtigkeit. Und analysiere dann die medialen Tiefeneffekte, zeige also, wie die Geschwindigkeit und Sofort-Verfügbarkeit von Daten und Dokumenten aller Art im digitalen Zeitalter die allgemeine Gereiztheit mit befördert und die Wut überhaupt erst sichtbar macht.

In ihrem Buch sprechen sie von einer "Deregulierung des Wahrheitsmarktes". Ist das, was sich in sozialen Netzwerken und in den Medien abspielt, nicht auch ein Spiegelbild der Deregulierungsprozesse, die neoliberalistische Wirtschaftspolitiker in Gang gesetzt haben?
Diesen Prozess der Deregulierung des Wahrheitsmarktes würde ich nicht prinzipiell kritisch sehen, er hat ein Doppelgesicht. Gewiss, es stimmt: Barrieren schwinden, fast alles ist sagbar geworden im Netz. Und doch: Die neue Zugänglichkeit der öffentlichen Sphäre und die Möglichkeit, die klassischen Gatekeeper in Gestalt von Journalisten zu umgehen, bringt nicht nur Hass und Hässlichkeit hervor, sie produziert eben auch eine neuartige Vielstimmigkeit. Sie kann einen von der Diktatur der scheinbar einen, einzig richtigen Weltsicht befreien und katapultiert einen, richtig genutzt, in eine Welt des Informationsreichtums. Ich profitiere als Wissenschaftler jeden einzelnen Tag von diesen neuen Informations- und Wahrheitsmärkten.

Leben wir nicht schon längst in einer Zeit der Informationskriege?
Das kann man so sehen, ja. Längst werden von unterschiedlicher Seite aus Troll-Armeen in die sozialen Netzwerke geschickt, um unerwünschte Auffassungen niederzubrüllen, Fake News zu verbreiten und Misstrauen zu schüren. Social Bots dienen der Simulation von Meinungsströmen, die so nicht existieren. Hacker erbeuten Geheiminformationen, die dann geleakt werden – und beispielsweise der Einflussnahme in Wahlkämpfen dienen. Das heißt: Auf der Weltbühne des Netzes ist ein mal offen, mal verdeckt geführter Kampf um Reputation, Meinungsmacht und Deutungshoheit entbrannt, der durchaus Züge eines Krieges mit der Waffe der Information und Manipulation annehmen kann.

Die Ubiquität der Information im Netz führt zu einer entgrenzten und beschleunigten Kommunikation, in der Kontexte kollabieren, Sicherheiten schwinden, Proportionen verrutschen, und die Wahrheit buchstäblich auf der Strecke bleibt. Was kann man dagegen tun?
Meine Kernthese lautet: In der gegenwärtigen Phase der Medienevolution steckt eine gigantische, gesellschaftspolitisch noch überhaupt nicht entzifferte Bildungsherausforderung. Wir sind unseren Medienmöglichkeiten mental noch nicht gewachsen. Wir müssen unsere eigene Medienmacht begreifen, die publizistische Machtverschiebung in Richtung der großen Plattformen verstehen lernen. Und es gilt zu begreifen, in welchem Maße eine Demokratie von verlässlicher Information und einem unverhandelbarem Minimum an respektvollem Austausch lebt.

Ihr Buch entwirft eine Utopie der "redaktionellen Gesellschaft". Wo setzt diese an?
Ich sage: In einer redaktionellen Gesellschaft sind die Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung und zum Wertegerüst des öffentlichen Sprechens geworden. Diese Ideale lassen sich plakativ folgendermaßen zusammen fassen: "Sei skeptisch! Prüfe erst, publiziere später! Analysiere Deine Quellen! Höre auch die andere Seite! Bemühe Dich um ein vollständiges Bild!" Am Schluss meines Buches skizziere ich drei Ansatzpunkte, um einer redaktionellen Gesellschaft näher zu kommen.

Wie sehen diese aus?
Zum einen ist der Einzelne gefordert wie selten zuvor in der Kommunikations- und Mediengeschichte der Menschheit. Weil jeder zum Sender geworden ist, so die Überlegung, sollte auch jeder lernen, als sein eigener Redakteur zu handeln. Hier ist die Schule in der Pflicht, denn es braucht einen systematischen Ort, um die Me-dienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit und eine publizistische Ethik einzuüben. Zum anderen bin ich der Auffassung, dass der Journalismus dialogischer und transparenter werden muss – dies, um redaktionelles Bewusstsein zu fördern, aber auch um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen. Und schließlich skizziere ich das Modell eines Plattformrates und versuche zu zeigen, wie man auch die Großmächte der öffentlichen Welt wie Facebook und Google einbinden könnte. Sie müssen notfalls gezwungen werden, ihre publizistische Verantwortung anzuerkennen.

Kann daraus eine kollektive Anstrengung werden – oder bleibt es am Ende ein Projekt weniger?
Das ist eine Frage des politischen Willens. Ich selbst bin im Letzten Bildungsoptimist. Insofern glaube ich die Lernfähigkeit von Individuen und Gesellschaften, auch die aktuell laufende Medienrevolution zu bewältigen. Wenn mein Buch ein minimaler Beitrag in diese Richtung sein könnte, dann wäre ich sehr stolz.




Zum Buch
Terrorwarnungen, Gerüchte, die Fake-News-Panik, Spektakel und Skandale in Echtzeit – der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen analysiert in seinem Buch "Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung" den kommunikativen Klimawandel. Und er entwickelt eine Ethik auf dem Weg zur Medienmündigkeit. Das Buch ist im Hanser-Verlag erschienen, hat 256 Seiten und kostet 22 Euro.