Bodo Kirchhoff im Interview

Die intellektuelle Tanzstunde

4. Juli 2018
Redaktion Börsenblatt
Die Feuilletons feiern derzeit Bodo Kirchhoff. Der Anlass für dessen mediale Dauerpräsenz ist ein doppelter: Am morgigen Freitag feiert der Schriftsteller seinen 70. Geburtstag. Und soeben erschien mit "Dämmer und Aufruhr" bei der Frankfurter Verlagsanstalt sein neues Buch als "Roman der frühen Jahre".

Auf die Frage, was ein Schriftsteller eigentlich tut, haben Sie mal geantwortet: "Schreiben ist Handwerk plus eigener Abgrund." Was überwiegt?
Das eine ohne das andere ist nichts. Die Literatur ist konkurrenzlos, wenn es darum geht, das Andere im Anderen zu entdecken und es uns erzählend nahezubringen. Das kann sie besser als der Film, besser als die Musik, besser als die Malerei. Um das Andere im Anderen aufzuspüren, muss man aber auch das Fremde in sich selbst begreifen wollen und den Mut haben, auf das zu schauen, was man gern als nicht zu sich selbst gehörig verkauft.

Ihnen ist der Unterschied zwischen Autor und Schriftsteller wichtig. Worin liegt der im Kern für Sie?
Für den Autor ist das Schreiben eine Möglichkeit von mehreren. Für den Schriftsteller ist das Schreiben alternativlos. Für mich war von Anfang an klar, dass ich nichts anderes machen könnte, auch nicht mit anderen Menschen etwas zusammen machen könnte. Ich habe das Schreiben nie als eine Episode gedacht; es war von Anfang an mein Leben.

Hatten Sie je die Sorge, vom Schreiben nicht leben zu können?
Nein. Mir war sehr früh klar, dass ich mit diesen anderen Dingen, die am Monatsende ein Gehalt einbringen, kein geordnetes Leben zustande brächte. Insofern schien mir das Schreiben auch als Möglichkeit, Geld zu verdienen, alternativlos. Deswegen habe ich von Anfang an darauf geachtet, dass ich mit meinen damals noch eher bescheidenen Möglichkeiten auch Geld verdiene. Ich habe sehr früh Erzählungen verkauft. Ich habe früh angefangen, Reportagen für die Zeitung Transatlantik zu schreiben, Reportagen, die aber auch die große Freiheit des Erzählens implizierten. Anders hätte ich sie gar nicht machen können, weil ich als Journalist nicht viel tauge. Ich fange schnell an, mit den Fakten, die es gibt, etwas Eigenes zu gestalten.

Sie waren noch jung, als dann der erste Vertrag mit Suhrkamp kam.
Ja, mit Ende 20 hatte ich diesen kleinen Zeh in der Tür des großen Verlages. Das gab mir, was die materielle Seite des Schreibens anlangte, das Gefühl, na ja, es wird schon irgendwie gehen. Und es ging. Ich habe bei der ersten Inszenierung eines Theaterstücks von mir ein bisschen mitgewirkt und bekam Geld dafür. Dann kam diese Novelle Ohne Eifer, ohne Zorn heraus, die mein Sündenregister begründet hat. Dann der Erzählungsband über das Frankfurter Bahnhofsviertel Die Einsamkeit der Haut. Ich habe viele Reisen gemacht. Habe Erzählungen an ein Herrenmagazin verkauft. Da kam immer etwas Geld. Ich konnte sozusagen mein Studentenleben fortführen. Irgendwann lernte ich die Philippinen kennen, diese Mischung aus Dritter Welt, Katholizismus und Hollywood. Dann habe ich Infanta geschrieben, das brachte mein Schreibleben in eine andere Dimension – übrigens mit durchaus ambivalenten Folgen: Damals wurde es als Skandal empfunden, dass einer aus der literarischen Liga bei Suhrkamp plötzlich einen Bestseller hatte.

Um 2000 herum wechselten Sie zur Frankfurter Verlagsanstalt. Warum verließen Sie Suhrkamp?
Ich konnte die damalige Nachfolgeregelung bei Suhrkamp nicht billigen, da ich das alles aus nächster Nähe miterlebt hatte. Ich ging also zu Joachim Unseld und fing dort für mein Gefühl noch einmal von vorn an. Dieser Druck hat mir und meinem Schreiben insgesamt gutgetan.

Etwas Neues haben Sie damals auch am Gardasee begonnen, in Torri del Benaco: nämlich Schreibseminare zu geben.
1997 hatte ich dort ein Grundstück gekauft und gebaut und hatte natürlich danach erst mal Schulden. 2002 haben meine Frau und ich dann mit den Schreibseminaren am Gardasee angefangen. Die haben sich schnell zu einem absoluten Standbein für uns entwickelt. Seitdem bin ich in meinem Schreiben, in der Auswahl meiner Stoffe und der Art meines Vorgehens sehr viel freier geworden.

Kosten Sie die Schreibkurse nicht auch viel Arbeit und Kraft?
Natürlich sind sie auch eine Belastung. Am Anfang bedeutete der Gardasee Urlaub, Familie, Schreiben. Mit den Seminaren hat sich der Sommer verwandelt in einen Arbeitssommer. Andererseits wäre das Haus ohne die Schreibkurse für uns nicht zu halten gewesen. Mit den Jahren sind die Kurse dann immer mehr geworden, im Augenblick machen wir sechs pro Jahr. Daran hängt ja nicht nur diese eine Woche jeweils, sondern es bedeutet Vorbereitung und Nachbereitung, meine Frau ist täglich zwischen vier und fünf Stunden damit beschäftigt.

Sie bieten die Kurse seit 16 Jahren an. Verändert sich Ihre Kundschaft?
Ja, schon. Wir stellen fest, dass immer weniger der Teilnehmer, die zu uns kommen, das gelesen haben, was sie eigentlich hätten lesen sollen in ihrem Leben. Deshalb geben wir am Ende der Schreibkurse – auf jeden Einzelnen zugeschnitten – Leseempfehlungen, nachdem wir sie oder ihn etwas kennengelernt haben. Und wir stellen fast immer fest, dass die Betreffenden von den Büchern, die wir empfehlen, noch nie etwas gehört haben. Aber wir stellen auch fest, dass es einen ungebrochenen Wunsch gibt zu schreiben. Dieser Wunsch ist regelmäßig sehr, sehr groß und kann aus den verschiedensten Motiven resultieren: um einschneidende Dinge im eigenen Leben zu erzählen; um eine Familiengeschichte zu erzählen; oder um etwas zu erzählen, was einen beschäftigt, was vielleicht andere erlebt haben.

Die Leute kommen zu Ihnen, um zu schreiben, obwohl das Lesen immer weniger eine Selbstverständlichkeit ist, der sie noch Zeit widmen?
Ja. Das ist interessant. Obwohl durch die elektronischen Medien mittlerweile zwei Lesergenerationen weggebrochen sind, hat dennoch der Nimbus des Buches überhaupt nicht eingebüßt. Wir erleben eine seltsame Paradoxie. Nach wie vor zeigt sich jeder Politiker auf einer Buchmesse gerne mit einem Buch. Aber es wird nicht gelesen. In meiner Novelle Widerfahrnis musste ein Verleger irgendwann feststellen, „dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab“. Das ist, vielleicht etwas zugespitzt, die Entwicklung.

Haben Sie eine Idee, wie es wieder mehr Lesende werden könnten?
Ausschließlich durch Elternhaus und Schule! Vor allem durch die Schule. So wie es jetzt läuft, treibt die Schule den jungen Leuten das Lesen aus: durch einen völlig überholten Kanon, durch Lehrer, die selber nicht mehr lesen und die deshalb nicht mehr vermitteln können, was der Wahrheitsgehalt innerhalb der Fiktion ist. Die schlimmste Ansicht ist heute die, dass Bücher für Zielgruppen geschrieben sein müssten. Wir haben uns doch mit 17 oder 18 Jahren überhaupt nicht gefragt, was habe ich mit Joseph Roths Der stumme Prophet oder was habe ich mit Anna Karenina zu tun. Oder mit dem Zauberberg – tut mir leid, ich hab’s nicht an der Lunge. Das sind doch keine Fragen gewesen! Sondern wir haben uns aus diesen Büchern das herausgezogen, was uns berührt hat. Das, was im gesamten Leseerlebnis verborgen ist. Um das in der Schule wieder vermitteln zu können, braucht es Lehrer, die dazu eigens ausgebildet sind, die nicht in ihrem Lehrerstudium irgendeinen Kanon eingetrichtert bekommen.

Geben Sie doch mal einen Lehrerkurs am Gardasee.
Ich würde es tatsächlich sehr begrüßen, wenn eine ganze Gruppe angehender Lehrer zu uns käme für eine Woche, finanziert vom Ministerium. Denen könnte ich für ihre Laufbahn etwas mitgeben. Es fängt schon damit an, dass wir dagegenhalten müssen, wenn im Deutsch-Leistungskurs nur Mädchen sitzen und allenfalls mal ein verirrter Junge. Man muss das Fach so attraktiv machen, dass sich die Jungs genauso herausgefordert fühlen wie die Mädchen. "Deutsch Leistung" – das muss der Kurs sein, wo es leichter ist, sich näherzukommen. Wo die interessanten Leute sitzen. Der Deutsch-Leistungskurs muss die intellektuelle Tanzstunde an der Schule sein.

Am Ende der Tanzstunde (ich habe es als Vater gerade selbst miterlebt) gibt’s dann Zeugnisse, da werden auf großer Schulbühne die Freaks in Mathe, Physik und Chemie mit Preisen der jeweiligen wissenschaftlichen Gesellschaften ausgezeichnet, und die guten Deutsch-Schüler gehen leer aus.
Das geht doch gar nicht! Da kann vielleicht der Börsenverein etwas machen, indem er gemeinsam mit Verbündeten einen Preis analog zu den Preisen der naturwissenschaftlichen Gesellschaften auslobt. Ein Preis an der richtigen Stelle – wie der Deutsche Buchpreis – kann enorm viel Gutes bewirken. Als ich den damals mit ersonnen habe, hatte ich mir nicht träumen lassen, was daraus wird. Man muss die Beschäftigung mit Literatur wirklich aufwerten. So ein Preis kann klarmachen, welche Herausforderung im Lesen steckt.

In dem schon erwähnten Buch Widerfahrnis sagt Leonie Palm, die in Berlin einen Hutladen betrieben hatte, irgendwann habe es für ihre Hüte nicht mehr genug Gesichter gegeben. Und dann hat sie zugesperrt. Gibt es für gute Bücher nicht mehr genug Leser?
Es verschwinden nicht nur die Gesichter, es verschwindet das Format derer, die Hüte tragen konnten. Genauso gehört zum Buch eine gewisse Lebenssicherheit dazu. Man muss sich einem Buch auch gewachsen fühlen, es als Herausforderung erleben, nicht nur als Last zwischen den Händen. Die Challenge, die die jungen Leute heute aber eher empfinden, ist die, mit diesen Schirmchen ihrer Smartphones zurechtzukommen und dort alles hinzubekommen, was sie wollen und sollen. Alles konzentriert sich auf diese paar Quadratzentimeter.

Was können Buchbranche und Börsenverein dazu beitragen, dass die Glaubensfähigkeit an die "Wahrheit der Fiktion" wieder zunimmt?
Der Börsenverein kann natürlich nicht in diese gesellschaftlichen Verästelungen hineinwirken, das wäre ein vermessenes Ansinnen. Er muss versuchen, auf die Politik, die Bildungspolitik und damit auf die Lehrpläne einzuwirken. Und wir alle als Buchbranche müssen aufpassen, dass wir uns nicht den elektronischen Medien geradezu entgegenwerfen und andienen – so wie ich das bei der Buchmesse seit Jahren beobachte. Wir müssen sagen, worum es geht beim Lesen: sich mit einem Buch in eine Ecke zu setzen, bei sich zu sein. Ein Buch zu lesen, heißt auch, für eine gewisse Zeit sich selbst alleine auszuhalten und nicht alle zehn Minuten von sich ein Selfie zu machen, um sich davon zu überzeugen, dass man noch da ist. Ein Buch kann einen auch davon überzeugen, dass man noch da ist – nämlich durch das, was es in einem auslöst. Wenn es das richtige Buch ist.

Ihr gerade erschienenes Buch "Dämmer und Aufruhr" ist eine große Erinnerungsarbeit – "Roman der frühen Jahre" steht im Untertitel. Das Buch endet, als Ihre Zeit bei Suhrkamp beginnt. Warum zu dem Moment?
Alles andere wäre die Geschichte einer Schriftstellerkarriere geworden. Das hätte mich nicht interessiert. Um sich so konzentriert erinnern zu können, wie ich das für dieses Buch gemacht habe, muss man sich schon ein Stück von der Gegenwart verabschieden, sonst geht das nicht. Man muss eigentlich auch noch einmal klein sein, gleichzeitig aber natürlich als Erwachsener die Geschichte erzählen. Das ist auch wieder so eine Paradoxie.

In Ihren Büchern sind Menschen immer unterwegs, in Bewegung, Ziele sind Ihren Helden oft gar nicht so wichtig. Woher kommt das?
Sie sind unbehaust. Es ist einfach wenig Sesshaftigkeit da. Meine Bücher sind trotzdem keine Road Movies, diese Unbehaustheit ist für mich eher ein innerer Zustand, der sich dann auch äußerlich zeigt. Ich selbst konnte halt nie gut stillsitzen, bleibe auch bei Einladungen nie lange, bin immer schnell wieder weg. Damit hängt das wohl zusammen.

Oft sind Ihre Figuren schon älter, brechen dann aber noch einmal auf, beginnen etwas, verlieben sich, fahren los.
Sie verhalten sich, als wären sie jung. Reither und Leonie in Widerfahrnis zum Beispiel verhalten sich so, wie junge Leute sich verhalten: Sie qualmen dauernd, hören Musik und sie schlafen im Auto. So habe ich mich zumindest verhalten, als ich jung war. Da rasseln sie so rein. Seit einigen Wochen schreibe ich an etwas Neuem, das wird auch schon wieder so eine Unterwegs-Sache, komischerweise.

Autos werden dann oft wichtig, Sie beschreiben die sehr genau. Sind Autos in Ihren Büchern die Welt gegen das Unbehauste?
Ja, das stimmt. Der Jaguar zum Beispiel, ein großer, abgefederter Wagen ist ein tröstliches Auto für etwas ältere Menschen. Wohingegen der Porsche etwas ganz anderes ist, der weckt falsche Träume und Illusionen, der tröstet nicht, der lenkt ab. Und der 3er-BMW ist so ein rauer, guter Freund.