Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch über Gendern in der Buchbranche

"Ich vermisse den produktiven Ansatz"

25. März 2019
Redaktion Börsenblatt
Er warnt davor, das Gendersternchen für einen Kulturkampf zu missbrauchen – und hat einen Wunsch an alle Schreibenden: Der Berliner Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch im Interview mit boersenblatt.net.

Geschlechtergerechte Sprache ist für Sie auch "Eine Frage der Moral", wie Sie in einem gleichnamigen Duden-Buch deutlich machen. Wie halten Sie es persönlich mit dem Gendern?
Ich handhabe das sehr flexibel: Ich verwende gern den Schrägstrich, aber anders als im Duden empfohlen ohne Bindestrich dahinter: Also Autor/in statt Autor/-in. Ich setze aber auch das Sternchen oder die Gendergap ein, zum Beispiel in den Sozialen Medien. Das generische Maskulinum jedenfalls halte ich für unangemessen. Wir lernen zwar alle, dass damit auch Frauen gemeint sind. Aber die Wahrheit sieht anders aus. Wenn es heißt: 200 Teilnehmer saßen im Publikum, dann rücken Frauen in den Hintergrund, weil sie mit dieser Wortwahl einfach nicht abgebildet werden.

Kann jemand, der hyperkorrekt gendert, Frauen im Alltag nicht trotzdem ausgrenzen und diskriminieren?
Natürlich. Ich kenne Professoren, die durchgängig korrekt gendern und trotzdem nur männliche Doktoranden in ihren Teams beschäftigen. Und umgekehrt gibt es grundanständige Menschen, die das generische Maskulinum nutzen und nicht sexistisch handeln. Letztlich tragen aber auch sie mit ihrer Sprache dazu bei, dass Männer stärker wahrgenommen und Frauen nicht mitgedacht werden. Sprechen ist eben auch Handeln – und hat Konsequenzen für das eigene Denken und für die Denkmuster anderer.

Viele Universitäten und Behörden haben längst Genderleitfäden formuliert. Würden Sie sich das auch von Unternehmen wünschen?
Unternehmen stehen mittlerweile vor einem gewissen Entscheidungsdruck: Ob und wie sie gendern – damit ist immer auch Statement verbunden. Es wird heute als bewusste Entscheidung für oder gegen etwas wahrgenommen. Die Behörden sind hier in der Tat vorgeprescht, erstaunlicherweise im Einklang mit der Subkultur, die das Gendersternchen hervorgebracht hat: Die Unterlagen zur Einschulung meiner jüngsten Tochter etwa tragen konsequent Sternchen. Doch gerade die Universitäten sind nicht so weit, wie viele denken. Zwar wurden universitäre Genderleitfäden entwickelt, aber ich persönlich habe als Professor in Berlin noch keine einzige Hausarbeit und keine Rundmail gesehen, in der konsequent gegendert wurde.

Sie haben einmal gesagt, Schriftsteller und Journalisten sind beim Gendern besonders konservativ. Wie erklären Sie sich das?
Der Journalismus hat das große Problem der Zielgruppenansprache: Die meisten Medien sind für ein breites Publikum gemacht – und es ist heute schon schwer genug, eine Sprache für die gesamte Leserschaft zu finden und Informationen so aufzubereiten, dass jeder und jede sie versteht. Das wird durch das Gendern nicht gerade leichter. Die "TAZ" hat lange das Binnen-I verwendet, aber natürlich auch ein Publikum, das damit kein Problem hat, sondern das sogar erwartet.

Bei Schriftstellerinnen und Schriftstellern kommt hinzu, dass Sprache für sie eben auch eine ästhetische Dimension hat und das eigene sprachliche Empfinden im Vordergrund steht. Mich wundert oft, wie wenig kreativ gerade Schreibende mit dem Thema umgehen, sie sind doch besonders sprachmächtig und haben die Kompetenz, Alternativen zu finden. Warum nehmen sie diese Herausforderung nicht an statt Aufrufe gegen das Gendern zu unterzeichnen? Das ist ein Widerspruch, den ich für mich nicht so richtig auflösen kann. Ich vermisse den produktiven Ansatz.

Und noch ein Zitat von Ihnen: "Die Menschen werden sich an alles gewöhnen, wenn sie es nur wollen." Gewöhnung oder Wille: Was spielt die größere Rolle bei der Umstellung auf geschlechtergerechte Sprache?
Es gibt Männer, die finden, dass Frauen ohnehin schon zu viel zu sagen haben. Die werden schwer zu einer gendergerechten Sprache zu bekehren sein – eben weil sie es nicht wollen. Bei allen anderen und damit bei den meisten dürfte die Gewöhnung eine größere Rolle spielen.

Nehmen Sie das Wort Studierende: Es hat den Begriff Studenten längst abgelöst. Wir haben uns daran gewöhnt. Selbst als ich neulich in einem Tweet von Radfahrenden und zu Fuß Gehenden geschrieben habe, bekam ich zwar viel Kritik für den Inhalt meiner Aussage, doch die ungewöhnlichen Formen hat niemand kommentiert.

Klar ist: Je älter die Menschen werden, desto schwerer fällt es ihnen, sich an Neues zu gewöhnen. Das geht mir nicht anders. Aber die Frage ist doch: Ruhen wir uns darauf aus? Sind wir am Ende sogar stolz darauf?

Wenn Sie in die Zukunft blicken – was würden Sie sich dann in Bezug auf die geschlechtergerechte Sprache wünschen?
Ich glaube, dass uns die Diskussion noch lange begleiten wird - und je offener und produktiver wir sie führen, desto besser. Denn wer zu früh Fakten schafft, so wie derzeit viele Behörden, fördert nur die starke Polarisierung und dient damit nicht der Sache. Stattdessen wird eine Steilvorlage für diejenigen geliefert, die von Sprachpolizei reden. Nicht jede Lösung ist für alle das Richtige. Zwischen Gendersternchen und generischem Maskulinum gibt es noch viele Zwischentöne, die in der Diskussion momentan einfach untergehen. In jedem Fall warne ich davor, die gendergerechte Sprache für einen Kulturkampf zu missbrauchen.

Was raten Sie Verlagen und Buchhandlungen: Mehr Gelassenheit in der Debatte?
Von der Buchwelt, in der sprachliche Kreativität zum Berufsbild gehört, würde ich mir wünschen, dass sie mitdenkt, mitredet, mit eigenen Ideen und mit der Freude am Experiment vorangeht: Gelassen, aber keinesfalls mit dem Gefühl, sie könne sich zurücklehnen. Akzeptieren, dass sich ein Teil der Gesellschaft auf den Weg der geschlechtergerechten Sprache begeben hat und kleine Schritte mitgehen – das wäre doch schon mal ein Anfang.

Zur Person

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. 2007 gründete er mit dem Bremer Sprachblog das erste deutschsprachige Sprachwissenschaftsblog. Seitdem bloggt er über Sprache und Sprachen, etwa unter sprachlog.de. Im März 2018 erschien sein aktuelles Buch "Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen" (Dudenverlag).

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