Zwei grundstürzende Entwicklungen treiben die Branche derzeit in besonderem Maße um: die Digitalisierung mit all ihren Implikationen und Weiterungen und der jüngst festgestellte Verlust von gut sechs Millionen Lesern.
Die Verlage sehen ratlos dabei zu, wie ihr Publikum und mit ihm ihr Absatzmarkt (ver-)schwindet. Mit derselben Rat- und häufig auch Kopflosigkeit versuchen sie derweil, die Digitalisierung ihrer Strukturen und Produkte voranzutreiben. Innovative Projekte werden gesucht, Plattformen entwickelt, die den Lesern Mehrwerte bieten sollen, Vertrieb und Marketing elektronischer und datenorientierter. Die Verlage übersehen dabei, dass ihre beiden Problemfelder in einer engen Verbindung stehen.
Für einige Fachverlage und Anbieter auf dem Bildungsmarkt macht es zweifelsohne Sinn, neue, digitale Angebote zu entwickeln, das Buch gewissermaßen aufzubinden oder gleich ganz zu makulieren – sie sind dann eben keine Verlage mehr. Und natürlich müssen auch Publikumsverlage prüfen, wie Arbeitsabläufe verbessert, welche Produktionsschritte sinnvollerweise digitalisiert werden können.
Simplifizierung von InhaltenAber gerade die großen Verlagsgruppen gehen weit darüber hinaus: Sie setzen ganz auf data-driven Marketing, optimiertes Targeting von potentiellen Käufern und clevere Pricing-Strategien, um den verbliebenen Lesern immer noch mehr der immer gleichen – und meist niedrigpreisigen – Produkte zu verkaufen. Die Optimierung des Rankings durch den Google-Algorithmus geht einher mit der Simplifizierung von Inhalten, Sprache und Ausstattung.
Verbindet man diese Art der Digitalisierung dann noch mit der Eventisierung und Infantilisierung des Lesens, wie die GfK es vorschlägt, kann man gewiss sein, dass man den Kunden, dem es letztlich egal ist, ob er fernsieht, Candy Crush spielt oder Romance-Massenware liest, nicht nur bedient – man erschafft ihn. Die verbleibenden Leser werden zu Illiteraten; man wendet sich an ein Publikum, das bei nächster Gelegenheit das Buch zur Seite legen wird oder schlicht ausstirbt – in der jungen Generation kommen keine Leser nach.
Narrativ vom "Kulturgut Buch"Hier stellt sich natürlich auch die Frage nach der Buchpreisbindung. Die Empfehlungen der Monopolkommission führten zu einem Aufschrei der Branche, die die "Banausen" verfluchte; die Kulturbeauftragte der Bundesregierung und die Bundestagsfraktionen erklärten unisono, die Buchpreisbindung stehe nicht zur Disposition. Aber wie lange glauben wir eigentlich, das Narrativ vom "Kulturgut Buch" noch aufrechterhalten zu können, wenn unsere Bücher keine Kultur mehr haben? Mit welchem Recht sollte der zehntausendste Nackenbeißer gegenüber dem Angebot des Streamingdienstes oder Appentwicklers privilegiert werden?
Genreliteratur, die keinen ästhetischen und intellektuellen Ansprüchen genügt (die sie selbst ja auch gar nicht erhebt), zeitgeistige Ratgeber, kurzlebige Sachbücher dominieren die Bestsellerlisten und den Büchermarkt, und die Digitalisierung dürfte diese Entwicklung noch radikalisieren; aber gerade derlei Titel haben gegen das Internet und seine vielfältigen und oft kostenlosen Angebote auf mittlere Sicht keine Chance. Die einzig sichere USP des Buches ist die, dass es "einer hyperkomplexen Realität zu genügen" vermag, wie es Jörg Bong vor einiger Zeit in der FAZ formuliert hat.
Das ist eine schlechte Nachricht – für alle Verlage, die in zunehmendem Maße dem sich auflösenden Markt hinterherschreiben; für alle Verlage, deren Programme beliebig, unambitioniert und unkonturiert sind. Sie können mit großem Aufwand kurzfristig Umsätze steigern, Marktanteile gewinnen. Aber ihre Leser werden bald verschwunden sein.
Keine schlechte Nachricht ist es indes für Verlage, die anspruchsvolle, gut ausgestattete Bücher herausbringen – und das sind, nicht immer, aber häufig, die Independents. Nicht jedes Buch muss von jedem gelesen werden – oder auch nur gelesen werden können. In der Geschichte war es immer nur ein kleiner Teil, der gelesen hat; das wird wieder so sein. Künftige Buchkäufer werden in bewusster Abgrenzung zu digitalen Angeboten lesen, nicht um sie zu substituieren. Bücher werden ein Teil des von Rainer Groothuis an dieser Stelle angedeuteten analogen Kulturbündnisses sein. Der Markt wird kleiner. Aber das gute Buch wird überleben – und mit ihm die guten Verlage.
"den Kunden, dem es letztlich egal ist, ob er fernsieht, Candy Crush spielt oder Romance-Massenware liest" ... "wenn unsere Bücher keine Kultur mehr haben" (weil sie massentauglich sind - meine Interpretation) ... "Genreliteratur, die keinen ästhetischen und intellektuellen Ansprüchen genügt" ... "Verlage, deren Programme beliebig, unambitioniert und unkonturiert sind" (weil sie den Wünschen der Candy Crush spielenden Leser entsprechen - meine Interpretation) ... "In der Geschichte war es immer nur ein kleiner Teil, der gelesen hat; das wird wieder so sein."
Wenn das nicht elitärer Bildungsdünkel ist, dann weiß ich nicht, was Sie darunter verstehen würden.
Ich sehe in dem Beitrag eine Reihe von Fehlschlüssen, die uns nicht weiterführen sondern im bekannten und wirkungslosen Argumentatiosnmuster sitzen lassen.
Zwei Themen stellt der Autor an den Anfang, die Digitalisierung und den Käuferschwund. Bei beidem sei die Branche ratlos. Bereits an dieser Stelle muss man anhalten: ich sehe zahllose Verlage und Buchhandlungen wie sie mit sehr gezielten und überlegten Strategien auf die Digitalisierung reagieren. Dass es noch immer Kollegen gibt, die ratlos sind, ist sicher auch wahr. Aber die Verallgemeinerung ist - wie fast immer - falsch.
Auch die Behauptung, dass die Branche auf den Leserschwund ratlos reagiert, ist nicht richtig. Zunächst mal: es handelt sich um einen Käuferschwund, keinen Leserschwund. Kleiner, wichtiger Unterschied. Und dann arbeitet die Branche (stellvertreten durch die Arbeitsgruppe im Verband) seit einem Jahr an einer Analyse und der Entwicklung von geeigneten Maßnahmen. Ich habe (wie schon bei Herrn Groothuis) das Gefühl, dass über diese Arbeit geurteilt wird, ohne sie zu kennen. Die "Ergebnisse" werden zerrissen, bevor sie vorliegen? Eigenartiges Vorgehen.
Sicher kann man sagen, dass der Käuferschwund direkt mit der Digitalisierung zusammen hängt. Nur nicht in der Art, wie der Autor es hier darstellt. Wenn Götschel als richtige Reaktion eines Publikumsverlags die Digitalisierung von Produktionsprozessen benennt, dagegen Datadriven Marketing, Targeting und Pricing Strategien als gefährlich bezeichnet, dann ist das ein viel zu eng gefasster Digitalisierungsbegriff. Die Studie zum Käuferschwund zeigt auf, dass die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Digitalisierung gravierende Auswirkungen auf unsere Branche haben. Dagegen als Heilmittel das Fokussieren auf anspruchsvolle Bücher und eine weitgehende Distanz zu digitalen Medien zu empfehlen ist genau so untauglich wie die von Groothuis empfohlene aufrechte Haltung. Wenn jemand Abends zu müde ist, sich einem Buch zu widmen, weil ihn die Medienbelastung des Tages ausgelaugt hat, und er abends der leichten Droge Social Media und Netflix verfällt, dann wird es eben überhaupt nichts an seiner Situation ändern, ob der Buchhändler mit gradem oder gebeugtem Rücken in seiner Buchhandlung steht oder ob ein Verlag "kulturell hochwertige" Bücher macht oder andere.
Insoweit hat das dann folgende Thema von Götschel mit der Ausgangsthematik einfach nichts mehr zu tun: Targeting etc. führen nicht zu besseren Büchern. Korrekt, der Meinung bin ich auch. Wer mit Marktanalysen untersucht, was andere gemacht haben, der kann daraus zwar lernen, was er bisher anders (und vielleicht falsch) gemacht hat, aber eben nicht, was man besser als die anderen machen kann. Ein geniales Produkt entwickelt man nicht durch Kundenbefragung.
Und hier folgt der nächste Fehler von Götschel: Targeting, Data driven Marketing und Pricing Strategien haben mit Digitalisierung quasi nichts zu tun. Die Begriffe klingen zwar nett, sind aber das Einmaleins des Marketings seit hundert Jahren. Aufbau und Analyse der Kundenkartei und Werbeaktionssteuerung usw.
Letztlich zielt Götschels Argumentation auf einen Punkt (der auch durchaus wichtig ist): gibt man dem Kunden das, was er erwartet, oder überrascht man ihn? Richtet man sich nach dem Leser oder nicht? Begibt man sich auf das Niveau seiner Kunden?
Und auch hier halte ich seine Aussage für falsch: Illiteraten werden nicht durch Me-too-Bücher und Trivialliteratur erzeugt.
Wenn wir ein sehr begrenztes Buchangebot hätten, dann würde es eine Rolle spielen, welches kulturelle Niveau das Angebot hat. Das ist etwa die Frage, die sich eine Schul- oder Stadtteilbibliothek stellen muss. Bei 70.000 "offiziellen" Neuerscheiungen und vermutlich über 30.000 Selfpublishing-Neuerscheinungen jährlich gibt es aber für jedes Bildungsniveau und jeden Anspruch mehr Titel, als eine Person im Jahr lesen kann. Damit liegt das Problem aber nicht mehr beim Verlag als Produzenten, sondern beim Leser und Buchhändler als Auswählendem.
Wir hatten in unsere Gescichte einige Phasen, in der auf einen großen gesellschaftlichen Wandel die Verlage mit einer Änderung ihres Angebots reagieren mussten. Das war in den 1860er Jahren, als mit der Gartenlaube ein ganz neues Literaturgenre (Marlit und die Trivial-(Liebes-)romane) geschaffen wurde und damit gleichzeitig auch ganz neue Leserschichten für die Literatur erschlossen wurden. Auch die Revolution der Drucktechnologie und die Einführung billiger Klassikerausgaben (Reclam, Kröner etc.) bewirkten eine Zielgruppenerweiterung. Und nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte das mit der Neuausrichtung der Belletristik-Programme auf einen eher amerikanischen Romantyp erneut. Das Taschenbuch in den Fünfziger Jahren und Weltbild in den Neunzigern brachten ebenfalls Zielgruppenerweiterungen.
Alle diese Entwicklungen wurden in ihrer Zeit als Trivialisierung, Verdummung und direkten Weg in den Untergang bezeichnet. Aber es kam anders.
Wie genau die heutige Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen aussehen muss, das weiß noch niemand genau. Muss es aber auch nicht. Denn solange wir Vielfalt haben und die Leser auswählen können, wird die Selektion des Wettbewerbs am Ende dafür sorgen, dass die geeignete Lösung erfolgreich aus der Veränderung hervor geht.
Exakt die Krux an der Sache ist, dass der Massenmarkt verlagsseits aktuell entsprechende Nischen schon gar nicht mehr besetzen kann oder mag - und diverse Alarmzeichen in Richtung Buchpreisbindung auch nicht sieht oder (meiner Interpretation nach) nicht mehr sehen will. Das könnte aber gerade für einige beteiligte des Massenmarktes auf Sortimenterseite eventuell ein Problem werden, wenn die kalkulatorische Schweigsamkeit zur Buchpreisbindung nach hinten losgeht, weil Amazon diese Geschichte ganz locker aussitzen kann, die großen Buchhandelshäuser dieser Republik aber nur sehr bedingt...
@Karl Olsberg und Matthias Ulmer
Dann versuche ich es in diesem Zusammenhang auch nochmals mit einer Hörempfehlung, um Sie verstehen lassen zu können, worum sich manche Menschen einfach sorgen:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/angriffe-auf-die-hochkultur-die-forschheit-der-anti.1005.de.html?dram:article_id=423134
Nicht sofort die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sondern einfach mal ´nem anderen Menschen in Ruhe zuhören.....
Jens Bartsch - Buchhandlung Goltsteinstraße in Köln