Buchtipp

Lebende Kaminbesen – wie Kinder als Schornsteinfeger vermietet wurden

19. Juni 2007
von Börsenblatt
Wer »Die schwarzen Brüder« von Lisa Tetzner gelesen hat (in Schaffhausen lief gerade das gleichnamige Musical in hervorragender Besetzung), kennt die Misere der armen Tessiner Bauernbuben, die als lebende Kaminbesen nach Norditalien vermietet wurden. Dass die furchtbare Kinderarbeit historisch wahr ist, hat Elisabeth Wenger nun belegt.
In »»I ragazzi del camino. Einer vergessenen Vergangenheit auf der Spur« breitet Wenger ihre in mühsamer detektivischer Kleinstarbeit gefundenen Dokumente aus. Im Tessin und angrenzenden Tälern hat sie die letzten alten Leute ausfindig gemacht, die in ihrer Kindheit einem Padrone anvertraut wurden, der sie in Italien zum Arbeitseinsatz brachte. Zu essen bekamen die Kinder nichts, da sie nicht dick werden sollten – sonst hätten sie nicht mehr in die schmalen Kamine gepasst. Die Padrone kalkulierten ein, dass sich die Kinder durch Erbetteln von Essensresten am Überleben halten würden. Auch ein Dach über dem Kopf war selten genug anzutreffen. Die Arbeitsbedingungen katastrophal zu nennen, wäre untertrieben: Barfuß mussten die Kinder in die Schlote steigen, mit einer Raspel den Ruß abklopfen, der pfundweise in die Lungen gelangte. Viele überlebten die Tortur nicht. Die Gespräche, die Wenger mit alten Spazzacamini geführt hat und aus denen sie berichtet, zeigen schonungslos eine Welt, die noch nicht lange vergangen ist: Erst im Zweiten Weltkrieg endete die saisonale Vermietung der Bauernbuben, da die Grenze zu Italien geschlossen wurde. Oft aus Scham verdrängten die Dörfer diesen teil ihrer Geschichte, verschwiegen diejenigen das Elend, das sie erlebt hatten. Wenger hat mit diesem Buch einen wichtigen Beitrag gegen das kollektive Vergessen geleistet. Elisabeth Wenger / Ivo Zanoni: »I ragazzi del camino. Einer vergessenen Vergangenheit auf der Spur«. Chamaeleon Verlag, 2007, 166 S., 18 Euro Weitere Buchtipps finden Sie hier!