22. Mainzer Kolloquium

"Wir brauchen eine Bild-Bildung!"

30. Januar 2017
Redaktion Börsenblatt
Das Mainzer Institut für Buchwissenschaft veranstaltet seit 1997 jährlich ein Kolloquium zu einer Kernfrage des Publizierens, „Buch und Fotografie“ hieß das Thema des 22. Mainzer Kolloquiums Ende Januar. Warum die Fotografie zum Thema eines Kolloquiums machen? Wo doch jede Buchhandlung eine Galerie für Coverfotos ist und somit das Foto ganz selbstverständlich als Appetizer für den Text hingenommen wird? 

Dem Institut ist es gelungen, Foto-Fachleute aus diversen Stufen der Buchproduktion und -rezeption für die Antworten auf diese Frage zu gewinnen - dementsprechend praxisnah wurde diskutiert. Zwischen den Fachbegriffen „Aufschlagverhalten“ und „Welturheberrechtsabkommen“ gab es viele Ausblicke in die Welt der Bücherpraxis, auf die die Studenten zugehen. Fast jeder Referent sagte etwas zu seinem beruflichen Werdegang – hilfreich für die Studenten zu hören, welche Wege und Umwege zum beruflichen Ziel führen können. Außerdem erfreulich konkret: die Zahlen aus der Praxis. Was hoch ist der Vorschuss für einen Illustrator, wie viel Geld gibt der Schulbuchverlag Cornelsen pro Jahr für Bildlizenzen aus? Somit waren die Vorträge nicht nur für die Studenten interessant, sondern auch für etliche Buchbranchenerfahrene, die am Kolloquium teilnahmen. 

Zum Forschungsbereich des Instituts für Buchwissenschaft gehören Technikgeschichte und Geistesgeschichte rund ums Buch, sie seien eng miteinander verbunden, so Institutsleiter Stephan Füssel in seiner Begrüßung. Er verortete den Beginn einer veränderten Sehweise auf die Fotografie in der Weimarer Republik, wo Fotojahrbücher wie „Das deutsche Lichtbild“ (EA 1927) und „Foto-Auge“ zeitgenössische Fotografien verbreiteten.

Moderator Mark Lehmstedt, Inhaber des Leipziger Lehmstedt-Verlags und Privatdozent am Institut, ordnete ein: die Fotografie –ungeachtet ihrer jetzigen Präsenz auf nahezu jedem Buchcover und in den Kapiteln von Sach- und Ratgeberbüchern – habe sehr lange gebraucht, um in den Printmedien anzukommen. Von der ersten Veröffentlichung eines Fotos im Buch 1850 (reproduziert wurde ein Stahlstich, der das Foto wiedergab) über die ersten Bildband-Ausgaben von Langewiesche und Malik Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu den heutigen Bildbänden mit hohen Auflagen war es ein langer Weg – und Lehmstedt meint: „Jetzt erst haben wir die technischen und ökonomischen Möglichkeiten, jeden Text so zu illustrieren, wie es dem Text angemessen ist“. 

Aber stimmt das wirklich? Frank Goerhardt, Herstellungsleiter des Taschen Verlags, zeigte Möglichkeiten und Grenzen auf: Jeder der Taschen-Bände müsse sich rechnen, die Ausstattung folglich entsprechend kalkuliert werden: Will man einen Goldschnitt, verzichtet man dafür auf den Hardcover-Einband, will man Werkdruckpapier, das in den Druckereien immer seltener angeboten wird, arbeitet man besser mit bewährten Zulieferern zusammen. So stellt die Papierfabrik Scheufelen ein für Kunstdrucke gut geeignetes Papier durchaus extra für hohe Taschen-Auflagen her. In Italien gibt es viele Druckereien mit angeschlossener Buchbinderei – auch das sind relevante Voraussetzungen für Druck und Verarbeitung. Goerhardt erläuterte außerdem die Zusammenarbeit mit Repro-Betrieben und den Abstimmungsprozess mit dem Künstler bzw. Fotografen. Sein Fazit: „Digitalisierung ersetzt das Auge nicht!“

Marlene Taschen, seit Januar als Nachfolgerin ihres Vaters Benedikt Taschen Verlagsleiterin des Taschen Verlags in Köln, umriss die Geschichte des Verlags von der Gründung 1980 (eine kleine Comic-Verkaufsstelle) an. Der erste Verkaufserfolg: 40.000 Exemplare einer Magritte-Monographie wurden zu einem sehr günstigen Preis unters Volk gebracht (im Publikum wurde sich tuschelnd darüber ausgetauscht, wer diesen Band im Regal stehen hat) – damit war der Grundstein gelegt und die Strategie gefunden. Von da an wurden Kunstbände zu kleinem Preis in hohen Auflagen in mehreren Ländern verkauft. Der Textanteil sollte klein und damit preiswert zu übersetzen sein. Später wurde die Strategie verfeinert: Inzwischen werden kiloschwere großformatige Bücher berühmter Künstler und Persönlichkeiten wie Helmut Newton oder Muhammed Ali gedruckt („Sumo“-Reihe).

Für erfolgversprechende Titel wird diversifiziert: Limited Editions, Trade Editions, Poster-Sets, Karten sowie begleitende Ausstellungen in den eigenen Galerien fahren auf verschiedenen Schienen Umsatz ein. Für Präsenz und Markenstärkung sorgen ein Dutzend Taschen-Stores in den besten Lagen der Metropolen von Europa und Amerika. Dennoch, so Marlene Taschen, sei die Programmplanung durch Benedikt Taschen „immer intuitiv“

Eine beeindruckende Zahl stellte danach der Berliner Buchgestalter Mathias Bertram in den Raum: Täglich würden eine Milliarde Fotos im Internet geladen, so Bertram, der beim Lehmstedt Verlag die Fotobuchreihe »Bilder und Zeiten« herausgibt - und inzwischen entscheide zunehmend der Kontext über den Wert eines Bildes: Urheber, Kommentar, Veröffentlichungsplattformen seien inzwischen relevantere Kriterien als die Bildqualität, gemessen an der technischen Perfektion. „Kleider machen Leute“, so sei es auch bei Fotos. 

Anhand vieler Doppelseiten aus Fotobänden erläuterte Bertram, wie ein Buchlayout die Wirkung von Fotos stärken oder auch vermindern kann. Daraus entwickelte sich beim Kolloquium eine kontroverse Diskussion darüber, ob es absolute Gestaltungskriterien gibt – oder ob ein Buch dann gelungen ist, wenn es seine Botschaft inhaltlich und gestalterisch perfekt übermittelt, ohne unbedingt perfekt zu sein. „Ist das nicht schon Manipulation?“ wurde unruhig gefragt. Die Diskussionsteilnehmer wurden sich wieder einig in der Feststellung, dass es eine „Sehschule“ geben müsste, die Bilder zu lesen lehrt.

Literaturagentin Paula Peretti präsentierte in Mainz Beispiele aus der Hochphase der Fotobilderbücher aus den 60er bis 80er Jahren, außerdem zeitgenössische Bücher, die mit Mischformen aus Fotografie und Illustrationen arbeiten. Den Rückgang der Fotografie im Kinderbuch begründet Peretti nicht nur mit den höheren Kosten für Fotos im Vergleich zu Illustrationen, sondern auch mit der Vermutung: "Dokumentarische Fotos altern schneller." Die Frage nach der Zielgruppe kam aus dem Publikum – ist diese Ästhetik passend für Buchkäufer (Eltern) oder Leser (Kinder)?

Die Frage nach der Zielgruppe steckt auch die Grenzen ab, innerhalb derer sich die Buchgestalter beim Schulbuchverlag Cornelsen austoben dürfen. Matti Wachholz-Hausmann, Leiter des Teams für die Buchinnenlayouts, machte klar: Den Schülern soll es zwar gefallen, aber zugelassen werden die Bücher zunächst von den Kultusministerien der Bundesländer, anschließend entscheidet der Lehrer über die Anschaffung. Für 1200 bis 1500 Buchneuentwicklungen pro Jahr bei Cornelsen wird für Entwicklung, Schüler-Preview, Zulassungsverfahren und Lehrerentscheidung eine Gesamtentwicklungszeit von mehreren Jahren veranschlagt. Dementsprechend knifflig ist es, bei Layout und Bildmotive genau die richtige Menge Zeitgeist einzupflegen – aus diesen Gründen werden Fotos und Illustrationen gemischt. „Kein Bild ohne Auftrag, ohne Ziel“ ist die Maxime für die Gestaltung. 

Adil-Dominik Al-Jubouri, Anwalt und Mitarbeiter in der Rechtsabteilung des Börsenvereins, erläuterte die Kriterien, mit denen die Interessen an einer Nutzung eines Fotos abgewogen werden. Persönlichkeitsrechte des Abgebildeten oder Eigentumsrechte an der abgebildeten Sache kommen in die eine Waagschale, Urheber- und Nutzungsrechte in die andere, justiert wird mit der ex-oder impliziten Zustimmung, dem öffentlichen Interesse und den international geltenden Fristen für ablaufende Urheberrechte. Anhand vieler Beispiele erklärte Al-Jubouri diese Kriterien. Die zahlreichen Fragen von Studenten zeugten von Vorwissen und Sensibilität für das mitunter heikle Thema („Was ist, wenn die fotografierte Person ihr Einverständnis zurückzieht?“) und der spontanen Anwendung des eben Gelernten bei Betrachtung der Beamer-Präsentation: „Dürfen Sie uns diese Bilder denn überhaupt zeigen?!“. Natürlich. Dafür gibt es das Zitatrecht. 

Den Abschlussvortrag über die Kritik von Fotobüchern hielt FAZ-Redakteur Freddy Langer, der die Kriterien für eine gelungene Kritik knapp umriss: wichtig sei eine Einordnung historisch, thematisch und ästhetisch; und die Kompetenz des Rezensenten dürfe nicht allein dadurch definiert werden, dass er sich (immerhin) mit dem Thema des Bildbandes auskennt. Mit Vergnügen präsentierte Langer misslungene Kritiken voller Metaphern- oder Zahlensalat, gespickt mit modischen Worthülsen („eigene Bildsprache!“). Sein Vortrag beleuchtete nicht nur das Rezensionswesen, sondern spiegelte dabei auch die Arbeit der Presseabteilungen in den Kunstbuchverlagen – wie funktioniert die Kommunikation, wie wird die Freigabe von Bildnutzungen für Kritiken gehandhabt: "Bei wenigen veröffentlichen Bildern ist der verkaufsfördernde Effekt der Kritik stärker".

Die Vorträge des Kolloquiums waren gerade lang genug, um die Themen in ihrer Komplexität aufzuzeigen, und kurz genug, um Fragen zu ermöglichen und neugierig zu machen. Für die Studenten, für die das Kolloquium in erster Linie gedacht war, ein schönes Angebot – vor allem für die, die in Bücher wie Bilder gleichermaßen vernarrt sind.