Lyrik aus Schleswig-Holstein

Landschaft der Poesie

11. Oktober 2019
Michael Roesler-Graichen

Schleswig-Holstein hat eine reiche Lyrikszene, wie ein Blick in neue Gedichtbände verrät. Dabei sind auch literarische Entdeckungen zu machen – zum Beispiel in einer Werkauswahl, die dem 2006 verstorbenen Dichter Christian Saalberg gewidmet ist.        

Im Norden der Bundesrepublik, in Schleswig-Holstein, hat sich über Jahrzehnte eine Lyrikszene etabliert, die die deutschsprachige Literatur der Gegenwart in besonderer Weise beeinflusst und bereichert hat. Mit dem kürzlich verstorbenen Günter Kunert, der seit 1979 in seiner Wahlheimat Kaisborstel bei Itzehoe lebte, hat die deutschsprachige Lyrik gerade erst einen ihrer bedeutenden Vertreter verloren. Zuletzt ist bei Hanser der Gedichtband "Zu Gast im Labyrinth" (112 S., 19 €), bei Wallstein der Roman "Die zweite Frau" (204 S., 20 €) erschienen.

Vor wenigen Jahren verstorbene Lyriker und Lyrikerinnen wie Sarah Kirsch, Hans-Jürgen Heise und Kay Hoff haben die deutsche Literaturszene ebenfalls geprägt. Für die Gegenwart stehen Namen wie Doris Runge, Dirk von Petersdorff, Heinrich Detering oder Arne Rautenberg, die in Schleswig-Holstein leben und schreiben oder dort ihre erste Wegstrecke als Lyriker zurückgelegt haben. Und gelegentlich machen sie dabei auch das Land und seine Leute zum Gegenstand ihrer Gedichte. Seit 1997 gibt es in Kiel die allein der Lyrik gewidmete Liliencron-Dozentur für Lyrik, die von der Christian-Albrechts-Universität Kiel und dem Literaturhaus Schleswig-Holstein, das unlängst sein 30-jähriges Bestehen feierte, vergeben wird.


Seit kurzem ist ein Werk zu entdecken, dass zu Lebzeiten des Autors vor allem Insidern der Lyrikszene bekannt war: die Gedichte Christian Saalbergs. Bei Schöffling & Co. ist unter dem Titel "In der dritten Minute der Morgenröte" ein umfangreicher Band mit ausgewählten Gedichten des am 25. Mai 2006 verstorbenen Lyrikers erschienen (384 S., 28 €). Saalberg, der 1926 im niederschlesischen Jelenia Gora (Hirschberg) geboren wurde, arbeitete im bürgerlichen Leben als Rechtsanwalt und Notar unter dem Namen Dr. Christian Rusche.

Den Auswahlband haben seine Tochter Viola Rusche und der in Hamburg lebende Schriftsteller Mirko Bonné gemeinsam besorgt, das Nachwort hat der Autor und Übersetzer Jürgen Brôcan geschrieben. Brôcan gehört mit Michael Krüger, Andreas Altmann und dem in Kiel lebenden Lyriker Arne Rautenberg (siehe auch unten) zu den Mitstreitern und Förderern Christian Saalbergs, wie es in der editorischen Notiz des Herausgeber-Duos heißt.

Saalberg, der zuletzt in Kronshagen bei Kiel lebte, hat zwischen 1963 und 2005 insgesamt 23 Gedichtbände veröffentlicht, ein 24. Band wurde postum 2006 veröffentlicht. Der Auswahlband gibt jetzt zahlreiche Gedichte und Zyklen aus allen Schaffensphasen Saalbergs wieder. Zu Lebzeiten erschienen zudem Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, darunter auch in dem von Heinrich Detering bei Reclam herausgegebenen "Buch der deutschen Gedichte" (Vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert. 4., durchges. und erg. Auflage, 2 Bde., 998 S., 39 €).

Christian Saalberg, der seinen Künstlernamen dem Ort im Riesengebirge verdankte, an dem das Sommerhaus der Eltern stand, war ein stiller, feiner, unaufdringlicher Mensch, der sehr genau verfolgte, was in der Welt und auch in der Welt der Literatur vor sich ging. Um sich und sein Werk machte er allerdings kein Aufheben, er zog es vor, eher im Verborgenen zu arbeiten, in seinem Kronshagener Arbeitszimmer, in dem er von seinen Büchern umgeben war. Doch seine Dichtung, die in den Anfängen sehr stark durch die poetischen Konzepte des Surrealismus geprägt war, ist nicht hermetisch, schließt sich nicht gegen die Welt ab, sondern bezieht ihre Initialzündung aus Literatur, Kunst und Geschichte, wie Brôcan in seinem essayistischen Nachwort schreibt.

Dass Saalberg abseits vom Literaturbetrieb stand, hat es ihm ermöglicht, seine Dichtung konsequent und ohne zeitgeistige Zugeständnisse weiterzuentwickeln. Von der klaren Gliederung in (gereimte) Strophen und der Reihenmetaphorik der frühen Gedichte löst er sich allmählich, entwickelt einen lakonischen Stil und setzt in der mittleren Werkphase verstärkt Mittel wie den Zeilenbruch ein. An die Stelle gebundener Rede treten zunehmend Elemente der Prosadichtung. Das kulminiert in Versen wie: "Mit der Dichtkunst / ist das so: // Die Wörter wollen / aufgeschrieben werden, / weiter nichts. // Gott weiß, warum." (aus: „Hier wohnt keiner“, 2003).

Viola Rusche und Mirko Bonné haben das Oeuvre für den Auswahlband in drei Phasen gegliedert: von 1963 bis 1987, von 1989 bis 1995 und von 1997 bis 2006. Die Chronologie der erschienenen Gedichtbände wurde beibehalten, die Reihenfolge der Gedichte innerhalb der Bände gelegentlich verändert. Den Abschluss bilden ein Gedicht und ein dreiteiliger Zyklus aus dem postum erschienenen Band, an mit folgenden Versen schließt: „Mein Tod fängt an, mir zu gefallen. Ich habe lange geschlafen, auf einmal war er da. / Es ist wie ein Märchen.“

Der Literaturwissenschaftler, Kritiker, Essayist und Übersetzer Heinrich Detering, 1959 in Neumünster geboren, hat seit 2004 mehrere Gedichtbände veröffentlicht, zuletzt den bei Wallstein erschienenen Band "Untertauchen" (2019). Die Gedichte dieses Bandes haben sowohl in der Wahl ihrer geographischen Bezugspunkte als auch inhaltlich einen großen Radius. Es sind Augenblicke, Kindheitserinnerungen, Tierbeobachtungen, Natureindrücke, literarhistorische Stoffe und märchenhafte Episoden, die zu Versen verarbeitet werden, manchmal auch zu Reimen (wie in "Hohenzollernbrücke").

Erfahrungsgesättigt, wie diese Texte sind, sind sie häufig auch Chiffren oder Allegorien, die für andere Wirklichkeitsdimensionen stehen (zum Beispiel das Gedicht „Kontrollmaus“). So deutlich der Gegenstandsbezug zu sein scheint, siedeln die Gedichte zugleich im Zwischenreich von Traum, Ahnung und Imagination. Detering, der unter anderem von 2011 bis 2017 Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung war, hat zudem die Liliencron-Dozentur für Lyrik in Kiel initiiert (2012 war er selbst Liliencron-Dozent).


Mehr als zehn Gedichtbände hat die in Cismar lebende, 1943 im mecklenburgischen Carlow geborene Doris Runge veröffentlicht, zuletzt den Band „man könnte sich ins blau verlieben“ (Wallstein, 88 S., 18 €). Es sind kurze, schlanke, sehr konzentrierte Gedichte – mit Zeilen, die nur wenige Worte, manchmal auch nur einziges Wort tragen.

"Blau" ist das Leitmotiv des jüngsten Bandes, in vielen Varianten und Spiegelungen. Aber es mischen sich auch Verse darunter wie "schwarze wörter" (so der Titel eines Gedichts): "in der dämmerung / fallen sie ein / mit blutigen / schnäbeln / und windigen / geschichten / besetzen / ihren schlafbaum / mich". Auf Formstrenge bedacht und sparsam in der Wahl der Mittel setzt Doris Runge in ihren Gedichten eine seltene Schönheit frei. Mit Doris Runge wurde 1997 die Liliencron-Dozentur eröffnet.


Der 1966 in Kiel geborene Lyriker, Erzähler und Essayist Dirk von Petersdorff ist Professor für Neuere Deutsche Literatur in Jena und gehört zu den theoretisch versiertesten Köpfen der Gegenwartspoetik. In seiner jüngsten Publikation "'Und lieben, Götter, welch ein Glück'" (Wallstein, 272 S., 20 €) beschäftigt er sich mit "Glaube und Liebe in Goethes Gedichten" (so der Untertitel). Darin zeigt er Goethe als (geistig) Reisenden, der viele Lebensformen und Überzeugungen einnehmen konnte, der die Vielstimmigkeit der Welt in sich vereinigte und zu seinem Werk verdichtete. In einem Gespräch im Todesjahr 1832 sagte Goethe einmal: "Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen ...; mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe." Erstaunlich modern mutet diese Selbsteinschätzung an, und sie spiegelt zugleich von Petersdorffs Poetik, die gleichfalls vielstimmig ist und scheinbar Unvereinbares ironisch miteinander kontrastiert (wie etwa in „Sirenenpop“, C.H. Beck, 89 S., 16,95 €). Dirk von Petersdorff war ebenfalls Liliencrondozent: im Jahr 1999.


1967 ebenfalls in Kiel geboren, gehört der Schriftsteller und Künstler Arne Rautenberg zu den vielseitigsten, einfallsreichsten und quirligsten Lyrikern der gegenwärtigen Literaturszene. Von der schöpferischen Spannweite kann man sich in seinem im August bei Wunderhorn erschienenen Gedichtband "permafrost" (88 S., 20 €) ein Bild machen.

Gedichte von existenzieller Wucht wie „wenn ich nicht mehr bin“ wechseln sich ab mit sprachspielerischen Gedichten wie „oh wei wei“ oder konkreter Poesie wie „Silence“. Alltägliche und letzte Dinge treten in diesem Band miteinander in Dialog, Mikrokosmisches mit Makrokosmischem, Banales mit Metaphysischem. „wie ist es denn so / wenn ich nicht mehr bin / fragte mein sohn mich / ich sagte es ihm / es ist wie es war / bevor du geboren / du warst noch nicht da“ heißt es in dem Gedicht „wenn ich nicht mehr bin“, das den Band eröffnet. Auch Arne Rautenberg war Liliencron-Dozent, im Jahr 2013.