Iris Radisch zur Situation der Literaturkritik

"Ödes Zielgruppendenken hat mit dem Zauber des Lesens nichts zu tun"

12. Juni 2019
Redaktion Börsenblatt
Aktuelle Literaturvermittlung, Buch-Blogger, Streiten über Bücher und der Kritikeralltag: ein Gespräch mit Iris Radisch, Leiterin des "Zeit"-Feuilletons, in Lüneburg.

Warum hat es Literaturkritik zunehmend schwerer?
Der Umfang von Literaturteilen in Zeitungen hängt vom Volumen der Buchanzeigen ab. Man kann schon sagen: Die klassische gedruckte Literaturkritik hängt am Tropf der Buchanzeigen. Wenn der Umfang des Literaturteils schmilzt, wie das in den vergangenen Jahren in der "Zeit" geschehen ist, hat das Folgen für die Literaturkritik. Die häufig geäußerte Klage über die Mainstreamisierung der Kritik ist nicht unabhängig von diesem Schrumpfungsprozess zu sehen, weil alles strukturell sehr miteinander verknüpft ist.

Welche Folgen hat der wenige Platz in den Feuilletons für professionelle Kritiker?
Niemand kann heute mehr davon leben, ein freier Literaturkritiker ausschließlich für die Printpresse zu sein. Die meisten Kritiken schreiben die festangestellten Redakteure heutzutage selber. Oder wir bitten Kollegen von den Rundfunkanstalten für uns zu schreiben. Es gibt im Journalismus wenig Formate – außer großen Recherchen und Reportagen –, die so zeitaufwendig sind wie die Literaturkritik. Dennoch bekommt ein Kritiker für eine mittellange Kritik nur 350 bis 450 Euro. Daran arbeitet er aber inklusive der Lesezeit mindestens zwei Wochen.

Wie werden Sie bei dem Arbeitspensum noch auf spannende Bücher aufmerksam?
Das ist, ehrlich gesagt, nicht einfacher geworden. Während die Möglichkeiten der Literaturkritik und das literaturkritische Netzwerk eher geschrumpft sind, ist die Buchproduktion immerzu weitergewachsen. Es gibt immer mehr Bücher – und eben immer mehr, die dann keine Beachtung finden. Diese explodierende Zahl neuer Titel, 70.000 im Jahr, kann ich gar nicht wahrnehmen. Völlig ausgeschlossen. Ich bin mir sicher, dass ich auch immer wieder wichtige, ganz tolle Bücher in der Fülle übersehe. Nicht mal die Debüts können wir alle prüfen.

Welche Möglichkeiten gibt es denn, Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen?
Ich lese die Berge an Vorschauen brav durch, richtig systematisch. Ich will wissen, wie viel Platz der Verlag diesem Buch gibt: Ist es der Spitzentitel, hat es vier Vorschau-Seiten oder nur eine? Ich bestelle die mir vielversprechend erscheinenden Bücher. Die anderen erreichen mich ehrlich gesagt nur schwer, weil ich ja schon mehr als genug an denen habe, die ich bestellt habe.

Wie kann man denn mit Ihnen in Kontakt treten?
Mailen. Anrufen. Wenn ich das Gefühl habe, da geht es wirklich darum, dass der Empfehlende auch weiß, wem er aus welchem Grund was empfiehlt und nicht wahllos Werbung macht, höre ich immer zu.

Wie sehen Sie die Rolle der Buch-Blogger?
Man muss sie ernst nehmen, denn das alte Reich-Ranicki-Imperium der Literaturkritik, das gibt es nicht mehr. In den neuen literarischen Fernsehsendungen gibt es kaum noch klassische Literaturkritiker. Auch in der "Quo vadis?"-Käuferstudie des Börsenvereins, in der es darum ging, verlorene Leserschichten wieder zurückzugewinnen, kam das Wort Literaturkritik an keiner Stelle mehr vor. Stattdessen gab es den Rat, vermehrt auf Influencer und Wohlfühl-Accessoirs in den Buchhandlungen zu setzen. Diese Art der vorauseilenden Selbstdemontage der Buchwelt halte ich für grundfalsch, aber ich werde die Zeit nicht zurückdrehen können.

Wie kann man heute Literatur vermitteln?
Die Käuferstudie hatte auf die Frage, wie man verlorengegangene Leser wieder erreichen kann, ganz irre Vorschläge. Zum Beispiel Yoga-Kurse in der Buchhandlung anbieten oder Weinverköstigungen und solche Sachen. Da trinkt man Wein und Whisky miteinander, macht ein bisschen Yoga, und dann blättert man noch so ein bisschen in ein paar Büchern herum. Solche Marketingideen verkleinern die Bedeutung des Lesens bis zur Unkenntlichkeit. Ich finde, man muss umgekehrt sagen: Nein, Lesen ist etwas ganz Besonderes, das kann ich nicht nebenbei machen, daran kann sich nicht noch eine Weinverköstigung und ein Häkelabend anschließen. Literatur ist etwas aus eigener Kraft. Etwas Unvergleichliches.

Also die Leser mehr fordern statt Hemmschwellen senken?
Ja! Die Leute wollen gefordert werden. Die wollen nicht, dass die Lektüre noch weiter vereinfacht wird. Die haben Lust an der Schwierigkeit. Da geht sonst zu viel verloren. Wo sind die echten literarischen Debatten ...

Bei Takis Würger gab es eine literarische Debatte …
Eine ganz wichtige Debatte, die darum ging, wie es jetzt in der Gegenwartsliteratur mit der Shoa weitergeht, nachdem die Zeitzeugen gestorben sind. An dieser Debatte konnte man wieder erleben, wie sehr uns Bücher erregen, positiv wie negativ! Diese Erregungskurve vermisse ich im Grunde am meisten. Es kann ja nicht darum gehen, indirekte Kaufempfehlungen aneinander zu reihen: „Das ist ein schönes Buch, und das ist ein schönes Buch, und lesen Sie doch das auch noch, das fand ich ganz toll.“  Literaturkritik ist immer auch eine Verständigung über uns selbst. Deshalb war die Debatte um das schlechte Buch von Takis Würger doch zu etwas gut.

Interessanterweise gab es ja dann auch die Kritik an der Literaturkritik ...
Ich war sehr zufrieden damit, wie kämpferisch und heftig die Debatte geführt wurde. Doch dann wollten einige Buchhändler die Literaturkritik in einem offenen Brief dafür abstrafen mit der Begründung: So etwas verbiete sich. Es ist jenen Buchhändlern ja unbenommen, weniger strenge Kriterien an den Roman von Takis Würger anzulegen als die deutsche Literaturkritik, die das Buch in seltener Einhelligkeit verrissen hat. Aber dass man dann die Literaturkritik, die sich nach langer Zeit einmal wieder ermannt und eine große Debatte geführt hat, kollektiv abstrafen wollte mit dem Hinweis, sie spiele sich nur auf, weil sie unter Bedeutungsschwund leide – das war richtig verrückt.

War das Streiten das Geheimnis des Literarischen Quartetts, als Sie dabei waren?
Na klar. Das Streiten hat den Leuten viel mehr Spaß gemacht, als wenn heute immer alles irgendwie von Kritiker-Conférenciers empfohlen werden muss, wenn es um den Nutzwert für alle möglichen diversen Leserschichten geht. Reich-Ranicki ging es um die literarische Wahrheit, er wollte wissen, ist das Buch gut oder nicht. Dieser Wahrheitsfuror hat die Leute wirklich gepackt, und er hat damit einigen Autoren Welterfolge beschert. Das schafft man eben nur, wenn man nicht darauf schielt.

Verändert sich die Art, wie man Bücher rezensiert – kürzer, rasch einzuordnen, schlagwortartiger?
Kurz ist selten richtig gut. Die Kurzrezension entzündet das Denken und die Fantasie nicht. Das liest man schnell und entscheidet: Brauche ich das, brauche ich das nicht? Interessiert mich das Thema?  So lässt sich kein lebendiges und tragfähiges Verhältnis zur Literatur aufbauen.

Gleichzeitig wird es bei der Konzentration aufs einzelne Buch immer schwieriger, die Entwicklungen der Gegenwartsliteratur in großen Bögen zu zeigen.
Ja, so ist es. Ich mag den inflationären Inhaltismus in der Literaturkritik überhaupt nicht, also den Hang der Kritiker, vor allem die Handlung der Romane amüsant nachzuerzählen, weil ich finde, dass nichts langweiliger ist, als den Inhalt eines Buches in einer Kritik ewig nacherzählt zu bekommen. Das bringt überhaupt nichts. Man muss erklären, was an dem Buch besonders ist. Ob es ein Kunstwerk ist und weshalb es ein Kunstwerk ist; die Handlung ist doch für die Beantwortung dieser Fragen meistens das Unwichtigste. Dafür sollen die Leute das Buch selber lesen, um die Handlung kennenzulernen.

Hängt das mit der Fragmentierung des Alltags zusammen, dass man die Zeit, die Aufmerksamkeit, die Konzentration nicht mehr aufbringen möchte?
Ich glaube, dass dieser Inhaltismus, der sich nur für den Stoff und die Handlung interessiert, mit einem öden Zielgruppendenken verbunden ist. Jeder soll mit dem zu ihm passenden Thema wie mit einer Ware versorgt werden. Das ist letztlich ein tödliches Denken, das mit dem Zauber des Lesens nichts zu tun hat.