Seit 1994 wird der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung nun vergeben, doch es gab kein Jahr zuvor, in dem dieser Preis mit solchen Appellen, Hoffnungen und Mahnungen in Richtung Freiheit und Europa verbunden wurde wie am gestrigen Abend im Leipziger Gewandhaus.
Bevor der Reigen der vielfach besorgten Reden begann, intonierte das Gewandhausorchester unter der Leitung des tschechischen Dirigenten Jakub Hrusa den Abend mit dunklen Klängen: der Ouvertüre zu Leos Janaceks Oper „Aus dem Totenhaus“, die Dostojewskijs Roman „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ zur Vorlage hat. Die Handlung des Romans spielt in einem sibirischen Gefangenenlager. Dramaturgischer Kniff oder nicht: so wurde jedenfalls das Gastland der Messe, Tschechien, mit der in Russland geborenen und aufgewachsenen Preisträgerin Masha Gessen verknüpft. Ihr „faktographischer“ Roman „Die Zukunft ist Geschichte“ (Suhrkamp) schildert am Beispiel vierer junger Russen das Platzen des demokratischen Freiheitstraums nach dem Ende der Sowjetunion und die Wiederauferstehung russischer Großmachtgelüste unter Wladimir Putin.
Burkhard Jung: "Um uns toben Stürme in einer politisch aufgeregten Zeit"Wie sehr die Freiheit auch in Europa auf dem Spiel steht, machte bereits Leipzigs OB Burkhard Jung deutlich: „Um uns toben Stürme in einer politisch aufgeregten Zeit“. Die Ereignisse in Chemnitz, die Gelbwesten in Paris und der Brexit rüttelten an den „Grundfesten Europas“. Die Freiheit sei durchaus in Gefahr, die politische Landkarte verändere sich, womöglich auch nach den Richtungswahlen in Europa und Sachsen in diesem Jahr. „Demokratieskepsis paart sich mit Xenophobie und Rassismus“, so Jungs erschreckender Befund.
Dass es in Europa „auseinander geht“, dass antieuropäische und nationalistische Kräfte an Boden gewinnen, konstatierte auch Börsenvereinsvorsteher Heinrich Riethmüller in seiner Ansprache. Angesichts des Auseinanderdriftens Europas sei es umso wichtiger, für die gemeinsamen Werte einzutreten, „sonst sind sie eines Tages nicht mehr da“ (komplette Rede: "Europa befindet sich am Scheideweg"). Riethmüller ging auch auf die aktuelle Lage der Buchbranche ein, die mit den Folgen der KNV-Insolvenz zu kämpfen habe und mit Blick auf Brüssel auf ein europäisches Urheberrecht hoffe, das den Verlagen wieder eine Beteiligung an Ausschüttungen von Verwertungsgesellschaften ermögliche.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters erwies dem Gastland Tschechien ihre Reverenz, indem sie einen Vers des tschechischen Literaturnobelpreisträgers Jaroslav Seifert zitierte: „Ein Dichter muss mehr sagen, als sich im Gemurmel der Worte verbirgt, will er den Frost zwingen, uns Schauer über den Rücken zu jagen.“ Grütters unterstrich in ihrem Grußwort die Bedeutung der Kunstfreiheit, die ein geschützter Raum für den Strom der Erzählungen sei. Dazu gehöre auch ein faires Urheberrecht, das die Schriftsteller und Künstler gerecht entlohnt. Um der Gefahr einer Monokultur im Publikationswesen vorzubeugen, habe sie den deutschen Verlagspreis ins Leben gerufen, so die Ministerin.
Bevor der tschechische Kulturminister Antonin Stanek ans Pult trat, warb Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer dafür, den europäischen Gedanken auch stärker aus der Sicht der östlichen EU-Mitglieder zu sehen. Stanek ging in seiner Rede auf die subversive Kraft der Literatur ein. Diese sei nicht auf autoritäre Systeme beschränkt, sondern müsse sich auch im demokratischen System entfalten: „Weil eine Literatur, die ihres Namens würdig ist, auch weiterhin unbequeme Fragen stellt, die eingeführte Ordnung anzweifelt, ethische Ansprüche erhebt, alles Bequeme und Falsche problematisiert.“
Gerd Koenen, 2007 selbst mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet, nannte Masha Gessens Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ ein pessimistisches Buch. Seine große Qualität liege darin, dass in ihm analytisches Nachdenken und gelebtes Leben eng miteinander verflochten seien. Gessens Buch spiegelt ihre eigene Geschichte: wegen ihres Judentums diskriminiert, verließ ihre Familie mit ihr das Land und emigrierte in die USA. Die junge Journalistin Masha kehrte 1991 erstmals in ihre Heimat zurück, um den Aufbruch in ein neues, demokratisches Zeitalter mitzuerleben. 1994 zog sie nach Russland zurück und erlebte, wie die erworbene Freiheit bald wieder zerstob und Russland erneut in den „fatalen Zirkel autokratischer Herrschaft und imperialer Überspannung“ zurückfiel, so Koenen. 2013 verließ Gessen, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt, erneut ihre alte Heimat, weil die homophobe Gesetzgebung der Duma ihr keine Wahl ließ. Wäre sie geblieben, hätte der Staat ihr und ihrer Frau das Erziehungsrecht an den drei Kindern entzogen.
Dass das Schicksal Europas mit demjenigen Russlands eng verwoben ist, gerät leicht aus dem Blick. Dabei, so Koenen, sei es Deutschland gewesen, dass durch seinen Angriffskrieg auf die Sowjetunion Stalin erst zu dem Idol gemacht habe, als das der Gewaltherrscher bis heute und mehr denn je verherrlicht wird.
Was der erzählerische und dokumentarische Antrieb gewesen sei, um ihr Buch zu schreiben, so Masha Gessen in ihrer Dankesrede, sei die Geschichte einer „Abwesenheit“, von etwas, das nicht geschehen sei. Es sei die Unfähigkeit der Russen, die eigene Geschichte und Gesellschaft zu beschreiben. Und dies habe vor allem mit der 70-jährigen Geschichte des Sowjetkommunismus zu tun, der nach und nach alle Geistes- und Sozialwissenschaften gleichgeschaltet und zu Erfüllungsgehilfen der marxistisch-leninistischen Ideologie degradiert habe. „Man hat die Gesellschaft der Mittel zur Selbstbeschreibung beraubt.“ Und das gilt auch retrospektiv: „Russland hatte als Nation keine Erklärung für den Horror, den es sich selbst angetan hatte.“ Die daraus resultierende Leere und psychische Überforderung sei der Grund dafür, weshalb eine ganze Gesellschaft die Flucht in die Vergangenheit antrete. So illusionslos das Buch und seine Autorin, Gessen sieht ihre Zustandsbeschreibung auch als Herausforderung – für die Gestaltung einer Zukunft, die Zukunft und nicht Geschichte ist.
Ulrike Musial