Umgang auf Augenhöhe hängt nicht vom Duzen ab!
In immer mehr Unternehmen wird das »Du« zum gelebten Standard. Mit Innovation hat die über alle Hierarchieebenen eingeführte, lockere Ansprache aber noch lange nichts zu tun.
In immer mehr Unternehmen wird das »Du« zum gelebten Standard. Mit Innovation hat die über alle Hierarchieebenen eingeführte, lockere Ansprache aber noch lange nichts zu tun.
„Wir duzen uns hier alle. Hoffentlich ist das okay für dich.“ Mittlerweile ist das eine übliche Aussage am ersten Tag bei einem neuen Arbeitgeber und junge Menschen fragen sich meist nicht mehr, ob das in Ordnung ist, sondern machen mit. Die Zeiten, in denen man dachte „Ui, das ist aber eine moderne Firma!“, sind Vergangenheit. Heute wird vielmehr die Neugier geweckt, ob sich der zeitgemäße Anstrich als oberflächlich erweist oder sich hinter der Fassade rechtfertigt.
Schließlich wünscht man sich ein Geben und Nehmen, kreative Mitbestimmung, produktiven Teamgeist, die Möglichkeit zur Entwicklung und Weiterbildung – gerade in der Buchbranche, wo eine leidenschaftliche Identifikation mit dem Produkt normal ist. Und diese Erwartungshaltung ist oft bestätigt worden durch die Stellenanzeige und den Onlineauftritt des zukünftigen Arbeitgebers. Kaum angekommen im Firmengebäude (oder im Zoommeeting), ist da zuerst – die Duz-Kultur.
Der Haken ist: Manchmal wird flächendeckend geduzt und trotzdem nicht offen kommuniziert. Trotzdem fehlen konstruktives Feedback und gegenseitige Unterstützung, trotzdem muss jede Entscheidung drei Ebenen weiter oben abgesegnet werden und trotzdem müssen Mitarbeitende als Bittstellende auftreten. Ein Du hilft da nicht! Im Gegenteil: Es kann den Weg dahin bereiten, dass Überstunden als freundschaftlicher Gefallen gesehen werden und Angestellte aus Bescheidenheit und Nettigkeit ungern Nein sagen oder gar Forderungen stellen – und Unzufriedenheit aufkommt.
Ein guter, kollegialer Umgang miteinander ist nicht von einem Du oder Sie abhängig. „Merle, dein Pitch war super, ich würde das Buch am liebsten sofort lesen. Mich hätte übrigens noch interessiert, ob du mit der Autorin über eine Fortsetzung gesprochen hast …?“ Oder: „Frau Gassner, Ihr Pitch war super, ich würde das Buch am liebsten sofort lesen. Mich hätte übrigens noch interessiert, ob Sie mit der Autorin über eine Fortsetzung gesprochen haben …?“ – Inhaltlich macht das keinen Unterschied! Und jetzt kann man sich streiten über sprachliche Nuancen. Ich finde, der Ton macht die Musik, und ein Du kann sehr respektvoll klingen, genau wie ein Sie im entsprechenden Kontext ganz freundschaftlich rüberkommen kann.
Oft wird flächendeckend geduzt, aber trotzdem nicht offen kommuniziert.
Veronika Weiss
Ich möchte hier nicht das Sie uneingeschränkt empfehlen, keineswegs. Aber ein Du ist noch lange nicht vertraut und unkompliziert, auch wenn sein Image darauf deutet. Schwierig ist zum Beispiel, wenn man sich nach Jahren plötzlich duzen soll. Oft kommt diese Idee von oben, und auf die Frage hin, ob alle einverstanden seien, gibt es einige, die das bei sich merkwürdig finden und darunter einzelne, die sich trauen, den Wunsch nach dem Siezen offen zu äußern. Die neue Situation ist insgesamt weder angenehmer noch innovativ.
Lustig wird es, wenn im Rahmen eines Teambuildingtags alle aufgefordert werden, sich zu duzen – und das passiert erst recht, wenn die Veranstalter eine traditionelle Unternehmenskultur wittern. Erst findet man es noch amüsant, plötzlich alle Vorgesetzten zu duzen. Wenig später, wenn es im Wettbewerb mal schnell gehen muss, hat man wieder nur den Nachnamen parat: „Jetzt du, Gassner!“ Ups. Am nächsten Tag kann man erleichtert und ganz seriös wieder beim Sie ansetzen.
Kurios auch, wenn internationale Treffen anstehen und man Frau Gassner als „my colleague Merle“ vorstellt. Wenn das allerdings gut läuft – ist danach dann der passende Zeitpunkt, auch im Deutschen zum Vornamen und dem Du überzugehen? Könnte klappen.
Was ich damit sagen möchte: Die gegenseitige Anrede ist ein kleines Puzzleteilchen inmitten einer komplexen Unternehmenskultur. Ein Du sollte sich, damit es nicht zum Fremdkörper wird, an der jeweiligen Stelle problemlos ins Bild fügen.
Und was wir wirklich wollen, ist nicht, wahllos zu duzen. Wo ausschließlich Top-down-Entscheidungen getroffen werden, wo Mitarbeitende ausführendes Organ sind, da gibt es dringendere Baustellen als ein kollektives Du. Da tut es vielleicht gut, beim Sie zu bleiben. Respektvoller Umgang auf Augenhöhe, gemeinschaftliche Projekte, Ernsthaftigkeit, Lachen und Kreativität – das geht per Sie und per Du.
Veronika Weiss (36) ist in Wien aufgewachsen und hat dort Germanistik und Musikwissenschaften studiert. Nach Praktikum und Elternzeitvertretung arbeitet sie in Hamburg als Lektorin in der Verlagsgruppe HarperCollins (Cora Verlag) und nebenbei frei als Texterin. Im Börsenblatt schreibt Weiss unter anderem über Trends in der Arbeitskultur, Berufseinstieg und Work-life-Balance.