Prägend waren für Tino Schlench aber nicht nur die ersten Lektüreerfahrungen, sondern auch ein Schüleraustausch, den er um die Jahrtausendwende in einer Baptistenfamilie im US-Bundesstaat Indiana verbrachte. „Seitdem schockiert mich eigentlich nichts mehr“, sagt er mit einem Lachen. „Ich hatte die Hoffnung, auszubrechen – und kam dann in eine stark religiöse, noch viel beengtere Welt.“ Die USA bleiben eine „Hassliebe“ für ihn, wie er es formuliert. Knapp 15 Jahre später wird er in das Land zurückkehren und als Gastwissenschaftler an der University of California in Berkeley arbeiten. Diese zwei Jahre veränderten vor allem sein Verhältnis zur eigenen Herkunft. „Ich habe gemerkt, dass ich nach Europa gehöre und habe mich sehr danach gesehnt.“
Nach dem Abitur begann er 2003 mit dem Studium der Kulturwissenschaft und Germanistik in Leipzig, ein Jahr darauf wechselte er nach Berlin. Ein Erasmusjahr führte ihn im Alter von 23 Jahren schließlich nach Wien, nachträglich betrachtet „das bisher schönste Jahr meines Lebens“. „Es war aufregend“, schwärmt Schlench, „ich habe in einem linken aktionistischen Hausprojekt gewohnt, was mich sehr politisiert hat“. In dieser Zeit begann er, sich verstärkt mit queerfeministischer Theorie auseinanderzusetzen. „Wir haben alles Mögliche gelesen, von Foucault bis Butler. Ob wir das auch verstanden haben, ist natürlich eine andere Frage. Aber mein theoretisches Fundament wurde damals gelegt.“ Später, nach dem Studium, verschlug es ihn wieder in die Stadt. Von 2015 bis 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und arbeitete im Bereich Wissenschafts- und Geschlechtergeschichte. Der österreichischen Hauptstadt blieb er auch nach dem Auslaufen seiner Uni-Stelle treu.