Miriam Zeh: Stimme fürs Buch
Miriam Zeh ist eine engagierte Stimme in der jungen Literaturkritik. Auch kritische Töne scheut sie nicht. Sie ist beim Börsenblatt Young Excellence Award 2021 nominiert.
Miriam Zeh ist eine engagierte Stimme in der jungen Literaturkritik. Auch kritische Töne scheut sie nicht. Sie ist beim Börsenblatt Young Excellence Award 2021 nominiert.
Miriam Zeh ist Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin durch und durch. Ihr Publikum spricht sie jedoch nicht über das geschriebene Wort an, sondern vor allem über die Stimme. Denn ihr Medium ist das Radio. Nicht nur hier beweist sich die 32-Jährige als echte Allrounderin. Im Deutschlandfunk (Dlf) moderiert sie regelmäßig die Literatursendung Büchermarkt, die sie auch redaktionell betreut. Eigene Beiträge verfasst sie ebenfalls – und zwar weit über den Buchtipp hinaus. So ist zum Beispiel am kommenden Sonntag ihr halbstündiger Essay „Mit der Schreibmaschine die Welt retten“ zu hören, in dem sie der Frage nachgeht, welchen Anspruch Autor*innen in Deutschland heute hinsichtlich der politischen Kraft ihrer Texte haben.
Wer, wie, was, warum, mit welcher Aussage und mit welcher Wirkung: Das sind die Aspekte, die Zeh unter den Nägeln brennen. Dabei meistert sie den Spagat zwischen Wissenschaft und niedrigschwelliger öffentlicher Debatte: Während sie in Köln, Paris und in den USA studiert hat und die vergangenen viereinhalb Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Unis in Frankfurt und Mainz tätig war, hat sie sich parallel dazu das Radiomachen im Learning by Doing draufgeschafft, angefangen im Jahr 2015 als studentische Hilfskraft im WDR. Denn den Diskurs möchte sie nicht im literaturwissenschaftlichen Kämmerlein unter „Eingeweihten“ in aller Theorie führen. Ihr Anliegen ist die Diskussion mit einem breiten Publikum – gerne auch kontrovers – und dafür auch neue Formate auszuprobieren.
„Raus aus der Bubble“
„Raus aus der Bubble“, lautet ihre Devise. Dazu gehört das multimediale Projekt Books UP!: Ein Ende 2020 aufgebautes, unabhängiges Portal zu einer Welt voller Bücher, das vom Literaturhaus Bonn verantwortet und durch das Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert wird. Zusammen mit einem 17-köpfigen Team rund um Initiator Dorian Steinhoff will Zeh allen Interessierten die Türen zu Autorinnen und Autoren, zu Geschichten hinter den Geschichten und einer Community an Gleichgesinnten öffnen. „Unser Ziel ist es, mit Leuten zwischen 25 und 35 Jahren ins Gespräch zu kommen, nicht einfach etwas rauszusenden, sondern einen Dialog zu führen“, erklärt Zeh, die davon überzeugt ist, dass junge Menschen grundsätzlich am Austausch über Literatur und dort behandelte gesellschaftliche Themen interessiert sind.
Ein Weg zum Publikum ist Social Media. Lesungen als Livetalks auf Instagram stellen, Autor*innen-Interviews oder Gedichte hören – „einfach mal das Handy an und durch gute Themen durchsliden“, das sei auch eine Möglichkeit, Literatur wieder mehr in den Alltag jener Menschen zu integrieren, denen das Lesen mit dem Erwachsenwerden abhandengekommen ist, meint Zeh. „Es muss nicht immer gleich ein superdickes Buch zuhause im Regal sein“, betont die gebürtige Hamburgerin, die vor den Toren der Stadt in einem schleswig-holsteinischen Dorf aufgewachsen ist und sich daran erinnert, selbst als Jugendliche „mit krasser Disziplin“ ans Lesen herangegangen zu sein, sich in den Sommerferien zum Beispiel durch einen Stapel an als wichtig angesehener klassischer Literatur durchgearbeitet zu haben, von Mann bis Dostojewski.
Lesen mit System
„Mein Drang zur Systematik besteht bis heute“, gesteht Zeh mit einem Schmunzeln. Den als „wichtig“ erachteten Literaturkanon hinterfragt sie mittlerweile hingegen extrem kritisch, auch unter feministischem Aspekt. „Wir brauchen einen neuen Blick auf die Literatur und ihre Rezeption abseits des klassischen Feuilletons mit seinem angestaubten Image, das längst den Anschluss an junge Leserinnen und Leser verpasst hat. Wer diese in einen niveauvollen Diskurs auf Augenhöhe einbinden will, darf nicht im professoralen Habitus daherkommen und sich nur auf die „großen Herren“ des 19. und 20. Jahrhunderts beziehen.“ Anstatt sich immer wieder auf das althergebrachte „Lesewissen“ des traditionellen Bildungsbürgertums zu beziehen, fordert Zeh eine adäquate Ansprache auch der Bildungsaufsteiger*innen sowie überhaupt jungem Lesepublikum, das man nicht unterschätzen, sondern auch herausfordern solle.
„Es ist mein Job, Lust auf Bücher zu machen, die keine kostspielige Marketingstrategie hinter sich haben und zu denen viele sonst nicht sofort greifen würden“, erklärt sie. Gleichzeit nimmt sie kein Blatt vor den Mund, wenn es um Bücher geht, die man sich ihrer Meinung nach sparen kann. „Mir persönlich geht es nicht ums „Hauptsache lesen“. Denn es gibt Bücher, die schlecht geschrieben oder lieblos lektoriert sind, deshalb ist eine kritische und unabhängige Literaturkritik wie sie bei Books UP! oder im Deutschlandfunk möglich ist, also fernab von Werbung, extrem wichtig.“ Auch auf ihren eigenen Social Media-Kanälen spricht sie Tacheles, teilweise mit, wie sie selbst sagt, „polemisch formulierten Einwürfen“, um Texte zu enttarnen und eine Debatte anzustoßen, wie aktuell zu Fitzeks „Der Heimweg“ und „365 Tage“ von Blanka Lipińska.
Dass Miriam Zeh im Corona-Jahr 2020 genauso beschäftigt gewesen war wie bisher – „nur abends etwas mehr zuhause“ –, kann man sich vorstellen. Erst vor einem halben Jahr ist sie nach Köln zurückgekommen, nachdem sie gut vier Jahre lang in Frankfurt gelebt hatte, wo sie an der Goethe-Universität am Forschungskolleg „Schreibszene Frankfurt“ beschäftigt war, gefolgt von einem weiteren Jahr an der Uni Mainz. „Die Stelle an der Uni und die Radio-Arbeit waren ein super Mix“, sagt Zeh, die jetzt gerade an den letzten 30 Seiten ihrer Dissertation im Fach Germanistik sitzt (zum Thema „Don’t cry – work! Schriftstellerische Arbeit im literarischen Feld der Gegenwart“). Eine Karriere als Germanistikprofessorin hingegen kann sie sich nicht so recht vorstellen, auch nicht als Lehrerin, ihrem „bürgerlichen Plan B“. Vielmehr blickt sie als Moderatorin von Lesungen der Zeit entgegen, in der endlich wieder Veranstaltungen vor leibhaftig anwesendem Publikum möglich sind. „Die unmittelbare Reaktion und die Begeisterung zu erleben, macht einfach Spaß“, bekräftigt sie. Auch für Books up! sind zukünftige Community Events im analogen Raum geplant.
Auf ein Wort:
Flötentöne: „Die Musik hat mich zur Literaturkritik gebracht: Ich wollte Musikerin werden, habe Querflöte, Deutsch und Philosophie auf Lehramt studiert. Mit der Zeit hat sich mein Fokus immer mehr in Richtung der Literatur verlagert.“
Lesen nach System: „Ich hatte schon als Kind eine krasse Disziplin, auch beim Lesen. Nachdem ich in der Stadtbücherei erst einmal sämtliche Pferdebücher durch hatte, wollte ich alle „wichtigen“ Erwachsenenbücher lesen, um mitreden und selbst Ansagen machen zu können. Das muss eine Art Große Schwester-Syndrom sein.“
Facepalm für Fitzek: „Der Bestseller-Roman „Der Heimweg“ von Sebastian Fitzek bedient zahlreiche frauenverachtende Narrative, paratextuell getarnt als Thriller mit pädagogischem Anspruch, der uns Empathie lehren soll. Nein, danke!“
Zur Person:
Miriam Zeh, Jahrgang 1988 und aufgewachsen bei Hamburg, studierte Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Philosophie und Musik in Köln. Zusätzlich zum Ersten Staatsexamen hat sie einen Master-Abschluss in Germanistik von der Washington University in St. Louis (USA) erworben. Seit 2016 arbeitet sie als freie Redakteurin, Literaturkritikerin und Moderatorin in der Buchredaktion des Deutschlandfunks sowie für den WDR, den SWR und weitere Medien. Am Forschungskolleg „Schreibszene Frankfurt“ der VW-Stiftung an der Goethe-Universität Frankfurt war sie von 2016 bis 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig, anschließend bis 2020 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Aktuell beendet Zeh ihre Dissertation im Fach Germanistik. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift „POP. Kultur und Kritik“ und präsentiert beim multimedialen Projekt Books UP! Literatur für junge Leute auf Instagram.
Börsenblatt Young Excellence Award 2021
Bewerbungen und Nominierungen beim Börsenblatt Young Excellence Award 2021 sind noch möglich. Alle Informationen zum Preis der Börsenvereinsgruppe in Kooperation mit future!publish gibt es hier.