Independent-Publishing

"Zwischen Goldrausch und Apokalypse"

22. Oktober 2021
Nils Kahlefendt

Im digitalen Fachprogramm "Frankfurt Studio Inside Publishing" beschäftigten sich drei exzellent besetzte Panels mit der Zukunft des unabhängigen Publizierens. 

„Über die Zukunft der Branche nachzudenken ist besser, als nostalgischen Gedanken an die guten alten Zeiten nachzuhängen“, davon ist Klett-Cotta-Verlagsleiter Tom Kraushaar überzeugt. Kraushaar gehört zu einer Gruppe von Verlegern, Agenten und Scouts, die internationale Büchermacher eingeladen haben, um in Frankfurt gemeinsam brennende Fragen der Branche zu diskutieren – endlich wieder in physischen Panels, die aus einem brandneuen Messe-Studio auf die Agora und Bildschirme weltweit übertragen wurden. Am Messedonnerstag ging es unter der geschmeidigen Moderation von Porter Anderson, Editor-in-Chief von „Publishing Perspectives“, um nichts Geringeres als die Zukunft unabhängigen Verlegens und Bücherverkaufens.

Wenn „Unabhängigkeit“ für Kraushaar weniger die DNA von Firmen als eine Eigenschaft von Personen bezeichnet, ist die Keynote-Sprecherin Nelleke Geel, Gründerin von Meridiaan Publishers in Amsterdam, ein hervorragendes Exempel. Geel, die Autor*innen wie Hilary Mantel, T. C. Boyle, Nino Haratischwili oder Ulla Lenze verlegt und ihr Haus im Mai 2019 startete, nahm die Zuhörer mit ins Abenteuer einer Verlagsgründung in Pandemie-Zeiten, also schlechterdings ins „Auge des Orkans“. Was uns Nelleke Geel ins Stammbuch schrieb, war nicht grundstürzend neu – aber mit so viel Verve und Witz vorgebracht, dass man ihre 15-minütige Performance allen Indie-Verleger*innen dieser Welt gern in heavy rotation vorspielen möchte.

 

Machen Sie die Buchhändlerinnen und Buchhändler zum Teil ihrer Geschichte.

Nelleke Geel

Leitspruch eins: „Kenne deine Autoren persönlich!“ Hilary Mantel etwa kam im Oktober 2019 nach Amsterdam, sieben Monate vor Erscheinen der holländischen Ausgabe von „Spiegel und Licht“, fünf Monate vor Corona. Die so generierten Interviews waren für den Verlag pures Gold: „Hilary brachte uns durch.“ Ebenso wichtig: Die persönlichen Beziehungen zu den „Verbündeten“ im Buchhandel, die ihre Kundschaft seit Corona besser denn je kennen. Wo sind die Läden, was kann man für sie tun? Kann man die Kollegen mit Zitaten („blurbs“) einbinden? „Machen Sie die Buchhändlerinnen und Buchhändler zum Teil der Geschichte“, rät Geel. Unabhängig zu sein, weiß sie, ist voller „phantastischer Widersprüche“: Natürlich möchte man, dass alles persönlich zugeht, mit maßgeschneiderten Kampagnen für jede Autorin, jeden Autor, mit einer Web-Präsenz, auf der sich jeden Tag etwas tut. Und dann? „Am Ende hat man ein paar Monate nicht auf die Website geschaut, sich die Wochenenden trotzdem um die Ohren geschlagen, und hat es nach der Pandemie noch mit einer Papierkrise zu tun.“ Da helfe nur: Durchatmen – und zu den Indie-Essentials zurückkehren.

Dazu gehört auch die feine Balance zwischen Flexibilität und Unbiegsamkeit im Grundsätzlichen. „Versuchen Sie nicht, jemand zu sein, der sie nicht sind!“ Leichter gesagt als getan – was, nebenbei, auch für den Umgang mit dem lieben Geld gilt: „Ein Indie kann sich hier keine bösen Überraschungen leisten, schon gar nicht in den ersten vier, fünf Jahren.“ Wer schnelle Rendite will, sollte sich ein anderes Business suchen.

Die Zukunft des Lizenzhandels

Im Panel “The Future of International Rights Meetings and Rights Trading” mit Buchmesse-Direktor Juergen Boos, Maria Lynch (Casanovas & Lynch Literary Agency, Barcelona) und Rebecca Servadio (London Literary Scouting) drehte sich das Gespräch um eine Branchen-Welt mit Zoom – und die künftige Rolle der großen Messen. In Frankfurt, da ist Boos überzeugt, wird es künftig noch internationaler zugehen, wobei der Trend eher in Richtung nationaler Gemeinschaftspräsentationen läuft. „Wir werden weniger große Einzel-Türme sehen.“ Konsens bestand darin, dass man auf den Messen zufällig auf interessante Menschen stoßen kann, ebenso auf Bücher, nach denen man nicht gesucht hat. Es brauche Zeit, Vertrauen aufzubauen – wenn das geschafft ist, kann man auf Videokonferenzen gehen, gemeinsame Erfahrungen digital am Köcheln halten. Das Fazit von Moderator Anderson: „Es gibt keine Frankfurt-Agora im Cyberspace.“

Es gibt keine Frankfurt-Agora im Cyberspace.

Porter Anderson

Vielfalt im Verlagswesen

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in Frankfurt war das Panel „The Future of Diversity in Publishing“ besonders spannend. Pierre Astier, seit 15 Jahren Literatur- und Filmagent mit Sitz in Paris, hat eben neue Büros in Asien und Afrika gegründet. Er machte darauf aufmerksam, dass es auf der Welt zwischen 6500 und 7000 Sprachen gibt – nur ein Dutzend von ihnen ist gegenwärtig im Markt dominant. Was geschieht mit den anderen? Wer etwa übersetzt einen Titel aus dem Mazedonischen ins Äthiopische? Die weltweite Übersetzer-Community wächst rasend schnell. Juliette Ponce publiziert in ihrer eben gegründeten Editions Dalva (Paris) zehn Bücher pro Jahr, allesamt von Frauen. Ponce, die Frankreich in Prä-Meeto-Zeiten Richtung England verlassen hat und nun wieder in Paris lebt, staunt über das breit gefächerte feministische Buch-Angebot in ihrer Heimat, „vor zehn Jahren waren es nur kleine Regalbretter“. Dennoch gibt es noch immer weniger Literaturpreise oder Rezensions-Plätze für Autorinnen. „Eigentlich“, sagt Ponce, „würde ich lieber in einer Welt leben, in der ich nicht nur Frauen publizieren muss. Aber so weit sind wir noch nicht.“

Die großen Häuser brauchen die Kreativität der Indies, diese brauchen Zugang zum Markt und ein funktionierendes Buchhandels-Netz.

Sandro Ferri

Die Zeit nach Corona

Beim Thema des letzten Panels zur Zukunft des Buchmarkts nach (oder mit) Corona hatten die Organisatoren tief in die Tasten gegriffen: „Zwischen Goldrausch und Apokalypse“. Sandro Ferri (Edizione E/O, Mailand) verwies zunächst auf Abhängigkeiten der Davids und Goliaths im Markt: „Die großen Häuser brauchen die Kreativität der Indies, diese brauchen Zugang zum Markt und ein funktionierendes Buchhandels-Netz.“ In Italien, so Ferri nicht ohne Stolz, seien vier der zehn Jahresbestseller 2020 von Independents verlegt worden. Sein Pariser Kollege Jean Mattern (Editions Grasset & Fasquelle) konnte sich über die zurückliegenden 12 Pandemie-Monate über ein kumuliertes Umsatz-Plus von 19 Prozent freuen – dank eines guten Netzes unabhängiger Buchhandlungen in Frankreich, einer starken „Buy Local“-Bewegung und einer Gesetzgebung, die großen Playern wie Amazon Zügel anlegt. „Die Zukunft heißt Frankreich“, rief Sandro Ferri mit ironischer Jakobiner-Geste. Einig waren sich die beiden, dass physische Buchhandlungen mehr als bloße Warenumschlagplätze sein müssen: „Sie sind Teil des sozialen Lebens – genauso wie Buchmessen!“