Wie können Verlage ihre Titel mit der neuen Systematik versehen?
Verlage müssen für die Anreicherung ihrer Titel mit den Lesemotiven nicht selbst aktiv werden. Im ersten Schritt statten wir bei MVB die im VLB gelisteten Buchtitel automatisiert mit diesen zusätzlichen Informationen aus. Für Non-Book-Artikel und Kalender lässt sich die Logik jedoch z. B. nicht übertragen, da sich diese als nicht text-basierte Produkte für diese Art der Einteilung nicht eignen. Die Bereiche Kinder- und Geschenkbuch sind vorerst ebenfalls ausgeschlossen, da hierbei das dem Kauf zugrunde liegende Lesemotiv überwiegend nicht von den Lesenden selbst stammt.
Welche technische Unterstützung erhalten die Verlage?
Im kommenden Jahr werden die Titel im VLB ein weiteres Datenfeld erhalten, wo die jeweiligen Lesemotive hinterlegt werden. Dieses sogenannte Massen-Labeling werden wir für alle relevanten Titel durchführen und nach der automatisierten Zuordnung eine Feedback-Option integrieren, falls aus Sicht der Verlage die angegebenen Lesemotive nicht passen sollten. Hierbei gilt es jedoch zu beachten, dass die Einordnung nicht aus subjektiver Sicht erfolgt, sondern auf den wissenschaftlichen neuropsychologischen Kundenbedürfnissen basiert. Hierzu bietet MVB auch Beratungspakete an.
Wie funktioniert dieses Massen-Labeling?
Da wir im VLB mehr als 2,5 Millionen gemeldete Titel verwalten, ist eine manuelle Zuordnung nicht möglich. Daher haben wir uns für eine automatisierte Lösung basierend auf künstlicher Intelligenz entschieden. Wo ein Mensch im Schnitt 60 Sekunden benötigt, um einen Titel einem der Lesemotive zuzuordnen, führt die Maschine diesen Vorgang in Bruchteilen einer Sekunde durch. Dabei werden verschiedene Parameter mit den Definitionen der Lesemotive abgeglichen und eine entsprechende Wahrscheinlichkeit errechnet.
Woher kommt die künstliche Intelligenz für diese Anwendung?
Um den richtigen Partner für die technische Umsetzung dieser automatisierten Analyse und Zuordnung der Lesemotive zu finden, haben wir in einem Pitch mehrere Anbieter ihre konzeptionellen und technischen Lösungsansätze präsentieren lassen. Es war ein wirklich knappes Rennen: ScriptBakery, ein neues Start-up im Bereich der KI-Manuskriptanalyse aus Freiburg, und ein weiteres Unternehmen haben sehr gute Ergebnisse präsentiert. Am Ende hat uns aber QualiFiction überzeugt, die in der Branche bereits mit ähnlichen Technologien präsent sind. Dabei bestand die Jury nicht nur aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von MVB, sondern auch aus drei Mitgliedern aus verschiedenen Verlagen, die mit gleichem Stimmrecht Einfluss auf die Wahl hatten. Es war uns sehr wichtig, bei diesem Projekt bereits zu Beginn gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der Branche an einer Lösung zu arbeiten, die für unsere Kundinnen und Kunden einen wirklichen Mehrwert bietet.
Wie lernt die KI das Buch kennen? Wird der Text als Datei eingelesen? Oder die ersten 3 Seiten? Ganz unabhängig von Inhalt kann das ja nicht gehen.
Ohnehin frage ich mich, ob eine Maschine den höchst individuellen Prozess des Lesens nachstellen kann. Klar funktionieren wir alle nach bestimmten Schemata und sind vielleicht gar nicht so eigen, wie wir immer denken. Andererseits ist es doch so, dass ein Buch von dem Einen wegen seiner spannenden Handlung geschätzt wird, von der Anderen dagegen für den literarischen Stil. Da hätten wir dann zwei ganz unterschiedliche Lesemotivationen für einunddasselbe Buch.
Und dann finden ja manche den Stil des neuen Weißnichtwer literarisch anspruchsvoll (und würden eine entsprechende Lesemotivation zuordnen), während andere das Buch eher banal finden (und es in die Kiste "Unterhaltung" stecken würden).
Und dann soll es ja noch Bücher geben, die einfach schlecht sind, und zu der man gar keine Lesemotivation finden kann. Was macht die KI damit? Kann sie überhaupt einen schlechten Text von einem guten unterscheiden?
Beim Ratgeber für Hundeerziehung ist das vielleicht nicht so wichtig, denn hier liegt die Lesemotivation auf der Hand (und wäre auch ohne KI zu erkennen), aber im diffusen und diversen belletristischen Bereich kommt mir das erst mal sehr gewagt vor.
ich möchte Ihre Frage an mich gerne beantworten. Die künstliche Intelligenz berücksichtigt mehrere Faktoren bei der Zuordnung der Lesemotive und ist auch als selbstlernendes System zu verstehen, das seine Zuordnungen immer weiter perfektioniert. Dabei geht es weniger um den Prozess des individuellen Lesens, denn die Lesemotive setzen einen Schritt weiter vorn an. Nämlich bevor die Käufer*innen die erste Seite überhaupt aufgeschlagen und sich mit dem Text bewusst auseinander gesetzt haben. In der wissenschaftlichen Studie zu den Lesemotiven, die die Gruppe Nymphenburg durchgeführt hat, geht es um die Einflussfaktoren des Unbewussten, die uns ein Buch kaufen lassen oder eben nicht. Die Unterscheidung zwischen einem guten oder schlechten Text ist für die KI nicht relevant. Erfüllt ein Buch in seiner Gesamtpräsentation ein entsprechendes Lesemotiv bei den Käufer*innen, ist die Entscheidung dafür unbewusst bereits getroffen. Die Qualität des Textes entscheidet erst im zweiten Schritt über die Zufriedenheit, wenn das zugrundliegende Motiv beim Lesen tatsächlich erfüllt wurde.
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Spätestens der Satz "...geht es um die Einflussfaktoren des Unbewussten, die uns ein Buch kaufen lassen oder eben nicht. Die Unterscheidung zwischen einem guten oder schlechten Text ist für die KI nicht relevant" hat soeben bei mir einen sehr herzhaften Lacher ausgelöst. Wir agieren also in einer mit Inhalten handelnden Branche, für die Inhalte in ihren unterschiedlichen Qualitäten eigentlich durchaus sehr wichtig sind - erklären aber nonchalant, dass die Inhalte bei dieser Form der Klassifizierung gar keine Rolle spielen?
Und wenn der Kunde mir im Anschluss das Buch mit dem Kommentar "Was für eine gequirlte Scheisse habt ihr mir da angedreht" zur Retour auf die Theke haut, dann denken wir nach, ob das zugrundeliegende Motiv tatsächlich erfüllt wurde und bauen das Feedback ggf. in die allwissende Datenbank ein?
Ab morgen verkaufe ich hier nur noch Schrauben. Die lassen sich aufgrund DIN wunderbar klassifizieren, die braucht irgendwann jeder und viel Platz brauchen die auch nicht! Mal schauen, wie es läuft....
Jens Bartsch - Buchhandlung Goltsteinstraße in Köln
„work in progress“ oder wie ich es bezeichnet habe, eine Beta-Version, ist in der digitalen Entwicklung Standard, da kein System in seiner Umsetzung endlich ist. Vielmehr entwickelt es sich permanent weiter und optimiert seine Bestandteile fortlaufend. Daher ist es nicht als halbgar oder halbfertig zu betrachten, sondern befindet sich in einem Zustand, bei dem bereits valide Ergebnisse und Aussagen getroffen werden können. Mit dem Zusatz, dass diese Analysen in einem Prozess des Selbstlernens fortwährend optimiert werden.
Die Qualität eines Textes zu bewerten, ist überwiegend ein subjektiver Vorgang. Texte, die Ihnen qualitativ wertvoll erscheinen, müssen mir wiederum so nicht erscheinen. Und umgekehrt. Die KI betrachtet daher unterschiedliche Faktoren, die für die Zuordnung eines der unbewussten Lesemotive relevant sind.
Die Einordnung von Büchern zu den verschiedenen Lesemotiven ist eine Ergänzung zu den bestehenden Klassifikationssystemen wie Warengruppen und thema. Selbstverständlich ersetzen die Lesemotive auch nicht die Beratung im Handel, sondern können auch hier eine hilfreiche Ergänzung schaffen, wenn es darum geht, aktive Leser*innen und Abwanderer*innen gleichermaßen in ihren Lesemotiven und Kaufimpulsen besser zu verstehen.
Die Thematik ist jedoch zu komplex, um sie in einer Kommentarspalte gebührend erläutern zu können. Daher lade ich Sie ein, unsere aktuellen Einführungs-Webinare zu nutzen, bei denen Sie die Möglichkeit haben, tiefer in die Materie einzutauchen. Morgen um 14:00 Uhr stellen Stephanie Lange und Ronald Schild dabei die Potenziale und Anwendungsmöglichkeiten für den Handel vor.
vielen Dank für Ihre freundliche Antwort auf meinen zugegeben etwas zugespitzten Kommentar. Was eine Beta-Version ist, dies weiß ich und die Formulierung „work in progress“ zielte nebenbei eher in Richtung VLB-TIX, womit unsere Branche ja zurzeit recht unterschiedliche Erfahrungen macht.
Eine Grundskepsis bleibt bei mir aber in der Frage bestehen, inwieweit sich bestimmte analoge Werte (zum Beispiel die literarische Qualität eines Textes) überhaupt ins Digitale übersetzen und dort analysieren lassen. Da horche ich natürlich auf, wenn ich erfahre, dass es in unserer mit Inhalten handelnden Branche bei dieser Geschichte primär gar nicht direkt um die Inhalte geht. Der Soziologe Steffen Mau hat mit „Das metrische Wir“ zum Themenkomplex übrigens ein sehr interessantes Buch geschrieben.
Und als Anschluss kommt bei mir dann auch die Frage auf, für welche Größenordnungen, Formen und Strukturen des Buchhandels solche Klassifizierungen eigentlich interessant sind oder sein können. Seien Sie im Zuge dessen dennoch versichert, dass ich Ihr Projekt zwar ein wenig skeptisch, aber durchaus mit sehr großem Interesse verfolge.
Ein herzlicher Gruß aus Köln
Jens Bartsch – Buchhandlung Goltsteinstraße