Gendern in der Belletristik (1)

Judith Vogt: "Gendern ist mehr als der Lack auf einer ungleichen Gesellschaft"

16. Juni 2021
Sabine van Endert

Was für die einen die deutsche Sprache vollends ruiniert, verstehen andere als Frage der Höflichkeit - das Gendersternchen ist mittlerweile auch in der Welt der Literatur angekommen. Eine Interview-Serie des Börsenblatts zeigt: Verlage und ihre Autor*innen gehen erstaunlich flexibel und entspannt damit um. Den Anfang macht die Autorin Judith Vogt. 

Sie gendern in Ihren Büchern, auch in erzählenden Texten. Wie hat das angefangen?
In Sachtexten habe ich schon früh mit dem * gegendert, aber in Romanen dann doch das generische Maskulinum gerade in den Pluralformen benutzt. Aber es begann mehr und mehr, mich zu stören. Beim Roman "Wasteland", den ich mit meinem Partner Christian Vogt geschrieben habe, fanden wir es dann einfach nicht mehr passend. Der Roman spielt in einer nahen Zukunft, in einer Gemeinschaft, die über das Männliche als Maß aller Dinge hinaus ist - warum sollten sie noch so sprechen? Und als wir dann bei "Wasteland" einmal den Dreh raus hatten, was neutrale Formulierungen angeht (in Romanen dann ohne *), gab es irgendwie auch keinen Weg mehr zurück. Es ist ja nicht so kompliziert und liest sich auch nicht so ungewohnt, warum sollten wir nicht damit weitermachen?

Sternchen, Doppelpunkt, Unterstrich… Wie gehen Sie konkret vor? 
In Sachtexten und Essays verwende ich meist den *, weil ich ihn einfach sowohl formell als auch "ideologisch" mag. In Erzähltexten suchen wir vor allen Dingen neutrale Formulierungen ohne Sonderzeichen. In "Ace in Space" haben wir auch ein paar mal den Doppelpunkt verwendet - es ist ein cyberpunkiger Roman, der einige Abstecher in Konzern- und Jura-Sphären macht, da passten Wörter wie Anwält:innen etc. einfach gut in den Kontext, zumal der Doppelpunkt ja von Unternehmen oft bevorzugt wird.

Sind Sie konsequent beim Gendern?
"Eigentlich" ja, ich spreche größtenteils auch gendergerecht, selbst im Alltag. Aber ich möchte weder, dass andere Leute mich deshalb zurechtweisen (was oft genug passiert), noch möchte ich andere Menschen implizit dazu auffordern, das auch zu tun. Ich finde, gerade im Alltag kann gendergerechte Sprache angreifbar machen, und ich verstehe, dass viele dazu noch keine Lust haben. Ich glaube aber, dass es immer normaler wird, was mich sehr freut.

Oft ertappe ich mich beim Lesen dabei, dass ich in Gedanken automatisch ein "*innen" hinterher denke oder kurz innehalte und mich frage, ob nur Männer gemeint sind.

Ist Konsequenz und Einheitlichkeit beim Gendern überhaupt schon ein Thema?
Mir ist wichtig, dass wir fehlerfreundlich bleiben - und dazu gehört auch gelegentliche Inkonsequenz. Das ist schon in Ordnung - ich mag den Begriff "failing forward", oder, wie es eine Freundin ausdrückt: "heiter scheitern". Wir können Dinge auch ausprobieren, einen modus operandi finden und vielleicht auch nie vollständig bei gendergerechter Sprache ankommen. Mir ist auch wichtig, dass die Intention eines Textes greifbar ist. Wenn dann ein gelegentliches generisches Maskulinum und vielleicht auch Femininum inmitten von gendergerechten Formulierungen steht, warum nicht? Die Intention wird ja klar. Ich glaube, der Weg ist das Ziel - dass wir uns überhaupt bewusst machen, dass in unserer Sprache lange etwas fehlte

Manche meinen, die sprachliche Eleganz würde leiden, wenn Prosa gegendert wird. Was entgegnen Sie denen? 
Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich finde es persönlich sehr aufregend, in einer Zeit zu schreiben, in der so viel in der Sprache passiert. Wir können experimentieren, können neue, andere Ausdrucksformen finden, können mit Sprache spielen. Schreibende behaupten immer, dass sie künstlerisch und kreativ mit Sprache umgehen, und wenn es darum geht, alle Geschlechter "mitzumeinen", ist das plötzlich keine Kunst und Kreativität mehr, sondern Zwang und Denkverbot? Versteh ich nicht. Mir macht es Spaß, Sprache inklusiver zu gestalten. 

Warum wird die Debatte um geschlechtergerechte Sprache Ihrer Meinung nach so erbittert geführt?
Ich glaube, dass geschlechtergerechte Sprache mehr ist als bloßer Lack auf einer ungleichen Gesellschaft. Natürlich muss sich noch mehr verändern, gendergerechte Sprache ist nicht alles, aber es ist was. Warum wohl sind rechte und konservative Strömungen so vehement dagegen? Weil mit gendergerechter Sprache an einem Weltbild gerüttelt wird, in dem es a) exakt zwei Geschlechter gibt und b) das männliche auch sprachlich mächtiger ist. Wenn wir jetzt plötzlich mit dem Stern ausdrücken "es gibt ganz viel und alles ist gleichwertig" - scheint das manchen wehzutun. 

Wie haben Ihre Verlage auf das Thema Gendern reagiert? Hatten Sie Probleme mit Ihren Verlagslektor*innen?
Der Verlag von "Wasteland", Droemer Knaur, hatte nichts dagegen, hat aber auch nicht großartig kommuniziert, dass der Roman gendergerecht geschrieben ist. Unsere Lektorin hingegen war sofort sehr interessiert an Bord, und es hat großen Spaß gemacht, mit ihr am Buch zu arbeiten. Hinter "Ace in Space" steckt ein kleiner Verlag, der Ach Je Verlag, der generell viel Wert auf queere und feministische Themen legt, und die Lektorin hat auch ein gutes Auge dafür. 

Stört es Sie beim Lesen von Literatur mittlerweile, wenn nicht gegendert wurde?  
Es stört mich nicht, weil ich es nicht erwarte, gerade bei erzählenden Texten, aber oft ertappe ich mich dabei, dass ich in Gedanken automatisch ein "*innen" hinterher denke oder kurz innehalte und mich frage, ob nur Männer gemeint sind. Ich beobachte das stärker als früher, aber ohne, dass ich eine Anspruchshaltung hätte.

Wäre es nicht großartig, wenn Literaturwissenschaftler*innen der Zukunft zurückblicken würden, und diese Zeit als einen Umbruch im Schreiben und Denken erkennen könnten, als eine Art neue Strömung? Vielleicht ist das nur Science-Fiction, aber es tröstet mich über die polemischen Debatten hinweg.

Ist Gendern auch eine Altersfrage? 
Ich denke, ja, das merke ich auch im Verwandten- und Bekanntenkreis. Ich glaube, vielen Menschen ist einfach auch nicht bewusst, dass es bei gendergerechter Sprache um mehr geht, als darum, Frauen mitzudenken. Dass mit dem Gendern binäre Konzepte an sich aufgebrochen werden - das stößt bei vielen auf großen Widerstand, weil es ihrem Weltbild nicht entspricht. Die meisten Menschen denken binär, weil sie es ihr ganzes Leben lang so gewohnt sind. Das in Frage zu stellen, lässt sie mit einem unguten Gefühl zurück. Das ist aber bei weitem nicht neu - unser nächster Roman "Anarchie Déco", der im August bei S. Fischer erscheint, spielt zur Zeit der Weimarer Republik, und letztlich ist da schon viel an Gender-Forschung passiert, die in eine ganz ähnliche Richtung ging - und dann von den Nazis vernichtet worden ist. Das ist keine Sache von Großstadtmillennials, auch wenn das gern behauptet wird.  

Und wie sehen das Ihre befreundeten Schriftstellerkolleg*innen? Sind Sie sich in der Frage einig?
Größtenteils ja. Wir führen - momentan natürlich vor allem online - viele Gespräche dazu, und dabei ist eine kleine, aber feine progressive Phantastik-"Bubble" entstanden, die Ideen wälzt, sich viel mit Sprache beschäftigt und insgesamt gar nicht das tut, was der Literaturbetrieb gemeinhin von der Phantastik erwartet - nämlich Eskapismus zu produzieren, der wenig mit unserer Realität zu tun hat. Im Gegenteil, im Moment habe ich den Eindruck, dass uns viele Themen umtreiben, die wir alle ganz unterschiedlich und vielfältig verarbeiten, und ich bin sehr gespannt, ob und wie das von der größeren Literaturbranche rezipiert wird. 

Glauben Sie, dass in fünf Jahren viele Romane in gendergerechter Sprache erscheinen – erstens, weil wir uns alle daran gewöhnt haben, zweitens, weil gerade die jungen, jetzt nachrückenden Autor*innen ein anderes Bewusstsein für gendergerechte Sprache entwickelt haben?
Ja, das glaube ich. Genau das, es entsteht Bewusstsein dafür, es entsteht auch Lust daran - und, was auch ein wichtiger Punkt ist: Es entsteht Routine. Strategien werden weitergegeben und diskutiert, und das wird Eingang in die Literatur finden. Wäre es nicht großartig, wenn Literaturwissenschaftler*innen der Zukunft zurückblicken würden, und diese Zeit als einen Umbruch im Schreiben und Denken erkennen könnten, als eine Art neue Strömung? Vielleicht ist das nur Science-Fiction, aber es tröstet mich über die polemischen Debatten hinweg.

Unsere Gesprächspartner*innen zum Thema Gendern

Bereits erschienen

Demnächst

  • Juan S. Guse, Autor
  • Gunnar Cynybulk, Gründer des Kanon Verlags
  • Mithu Sanyal, Autorin
  • Annette Michael, geschäftsführende Verlegerin des Orlanda Verlags
  • Helga Frese-Resch, Programmleitung Internationale Literatur, Kiepenheuer & Witsch
  • Katharina Gerhardt, freie Belletristik-Lektorin

Eine ausführliche, zusammenfassende Analyse zum Thema Gendern in der Literatur finden Sie in der aktuellen Printausgabe des Börsenblatts, in unserem Spezial Belletristik (Heft 24 vom 17. Juni 2021)

Welche rechtlichen Aspekte müssen Verlage beim Gendern von Manuskripten beachten? Dazu lesen Sie hier ein ausführliches Interview mit Susanne Barwick, der stellvertretenden Justiziarin des Börsenvereins.