Interview mit Verlagsjustiziar Rainer Dresen zur Causa Baerbock

"Das Urheberrecht braucht eine Lobby"

9. Juli 2021
von Torsten Casimir

Rechtsanwalt Rainer Dresen, Dozent in der Fachanwaltsausbildung für Urheber- und Medienrecht und Justiziar von Penguin Random House, attestiert Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock einen Begriff von Autorenschaft, der unter dem Etikett "modern" vor allem eins ist: bequem. Das Schweigen der Branche findet Dresen bedauerlich – eine vertane Chance, sich pro Urheberrecht zu positionieren.

Annalena Baerbock hat eine eigenwillige Vorstellung von Autorenschaft. Ist sie damit ein Sonderfall, oder steht ihr lässiger, höflich formuliert: ungenauer Umgang mit Urheberrechtsfragen nicht vielmehr für das Gros der Politiker*innen ihrer Generation, nach denen man auf Buchmessen vergeblich Ausschau hält?

Ich fürchte, sie hat gar keine genaue Vorstellung. Ich kenne die näheren Umstände natürlich nicht, aber für mich sieht das fast so aus, als verspürte sie, wie nicht wenige Jung-Autor*innen, offenbar den Drang, endlich auch mal ein Buch mit dem eigenen Namen auf dem Cover in den Händen zu halten und in die Kameras zeigen zu können. Vermutlich wusste sie bei Vertragsschluss nicht so recht, worauf sie sich da einlässt. Vielleicht hat sie dabei an den Kollegen Habeck und den Satz von Loriot gedacht "Es muss gehen, andere machen es doch auch". Als es dann zur Niederschrift kam und die Zeit und der Verlag drängten, wurde womöglich von ihr und ihrer Entourage, wobei ich da den Ghostwriter und ihre bedauernswerte Lektorin explizit ausnehmen möchte, hektisch aus diversen Quellen zusammengesucht und oft nur notdürftig umgeschrieben und paraphrasiert. So jedenfalls sieht das Ganze für mich aus. Kein wirklich ungewöhnliches Vorgehen, aber halt eines, das man eher einer Self-Publisherin als einer Kanzlerkandidatin und Sachbuchautorin nachsehen sollte.

Noch einmal nachgefragt: Ist das eine Causa Baerbock, oder kann man hier, pars pro toto, die Haltung einer ganzen Politikergeneration besichtigen?

Es trifft wohl zu, dass die Person des Politikers als "Homme de Lettres" auszusterben scheint. Unvorstellbar, dass etwa Helmut Schmidt in einem seiner zahlreichen Sachbücher oder auch Joschka Fischer, der so stolz auf seinen spät zugelegten bildungsbürgerlichen Habitus war, ebenso freimütig fremde Texte für sich verwendet hätten, ohne das zu kennzeichnen. Tempi passati, ich glaube aber nicht, dass man selbst in anderen aktuellen Politiker-Biografien, etwa Olaf Scholz' "Hoffnungsland" oder Armin Laschets "Der Machtmenschliche" einen ähnlich laxen Umgang mit Fremdtexten finden wird. Aber wer weiß, vielleicht wird man hierzu bald auch mehr erfahren. Wir dürfen sicher sein, dass gerade Heerscharen an Plagiatsjägern auch diese und andere Politiker-Texte durchflöhen.

Die Wertschätzung für das Buch als Medium scheint da zu sein (sonst hätte sie nicht eilig eins geschrieben oder zusammenfügen lassen), ein sinnvoller Begriff von Urheberschaft hingegen nicht. Ein Widerspruch?

Immerhin, eine gewisse Wertschätzung wird man wohl konstatieren dürfen. Das Buch als haptisch erfahrbares Symbol einer oft nur vermeintlichen Intellektualität hat auch im digitalen Zeitalter seine traditionelle Funktion gewahrt. Es gibt sie noch, die gut sichtbaren Bücherwände in Möbelkatalogen oder das Buchregal als Hintergrund auf Politiker*innen-Fotos. Dazu passt, dass das gedruckte Buch allen Unkenrufen zum Trotz auch in Zeiten der Pandemie seine Vorherrschaft über das E- Book nicht nur gewahrt, sondern ausgebaut hat. Zugleich lebt aber die digitale Welt von der möglichst schrankenlosen Zugangsmöglichkeit für den vielbeschworenen "User". Dieser steht ja zumindest nach Ansicht der Netzpolitiker, wie man mittlerweile nicht nur bei den GRÜNEN die früher "Urheberrechtsexperten" genannten Fachleute längst nennt, per se unter Kreativitätsverdacht. Dass die von den Usern ausgehenden diversen Kreativschübe dann allerdings eher selten in die vielzitierten "Remixes" und "Mashups" münden, sondern sich ;oft doch nur in Katzenfotos und Urlaubsimpressionen manifestieren? Schwamm, aber bloß keinen Uploadfilter drüber. Dieser modernen Idee einer möglichst umfassenden Zugänglichkeit steht dann die altertümliche Vorstellung einer Autorenschaft gegenüber, geschützt von einem von der gesetzlichen Konzeption her exklusiven, also andere ausschließenden Urheberrecht.

Dieser Widerspruch erodiert das traditionelle Urheberrecht als Urheber-Schutzrecht und öffnet es zunehmend hin zum User-Teilhabe-Recht. Der Karl Valentin zugeschriebene Satz "Kunst ist schön. Macht aber Arbeit" ist immer noch nicht von ihm, aber zutreffend. Wenn man sich mit einer vermeintlich so modernen Vorstellung der Autorenschaft dann im einsamen Studierzimmer manche Mühen und Arbeit bei der eigenschöpferischen Texterstellung ersparen kann dann wohl nimmt man diese "moderne" Interpretation der Autorenschaft gerne in Anspruch. 

Wir dürfen sicher sein, dass gerade Heerscharen an Plagiatsjägern auch andere Politiker-Texte durchflöhen.

Rainer Dresen

Der Eindruck, dass gegen die GRÜNEN-Kanzlerkandidatin gerade auch Kampagne gemacht wird, drängt sich bei der täglichen Zeitungslektüre schon auf. Ist die Aufregung nicht übertrieben?

Das ist natürlich Ansichtssache und sicher auch dem etwas selbstherrlichen Auftreten der selbsterklärten Plagiatsjäger geschuldet. Zudem gibt es sicher derzeit wichtigere gesellschaftliche Themen als ein Buch von Annalena Baerbock. Aber wie sagte kürzlich der Politikberater Stauss so treffend: "Wer Kanzlerin werden will, strebt das wichtigste politische Amt in Deutschland an. Da kommt man in eisige Höhen – weit oberhalb eines Ministerpräsidenten oder Bundesministers. Es werden Maßstäbe an einen angelegt, die objektiv ungerecht sind, aber das Argument hilft einem nicht." Insofern wird sicherlich von interessierten politischen Kreisen der fortgesetzt ungeschickte Umgang ;Baerbocks und ihrer Berater mit den Mängeln ihres Buchs nach Kräften genutzt. Die Medien realisieren umgehend, dass das Publikum sich nachhaltig interessiert;und tun eben ihre Arbeit und berichten. Mal erfolgt dies eindeutig pro Baerbock wie bei der "Süddeutschen" zwei Tage hintereinander auf Seite 1, mal eher contra wie bei der "BILD" gefühlt wochenlang auf Seite 2 ff., ganz wie es der geneigten Leserschaft zu gefallen scheint. Ob man das jetzt schon Kampagne nennt oder noch mehr oder weniger ausgewogene Presselandschaft, das ist in beiden (!) Beispielsfällen letztlich Ansichtssache.

Eher unaufgeregt scheint die Buchbranche den Vorgang zur Kenntnis zu nehmen. Was steckt hinter so viel Schweigen?

In der Tat das Gegenteil einer Kampagne ist gerade in der Buchverlagsbranche und ihrem Umgang mit dem Thema zu beobachten. Kaum jemand hat sich dazu bislang geäußert. Dass Ullstein nach einem ersten Statement stoisch schwieg und vielleicht hoffte, sich ohne weiteren Kommentar in die Sommerpause retten zu können, war verständlich. Als der mediale Druck dann immer größer wurde, erschöpfte sich die gestrige, clever formulierte Meldung - Verlage können halt mit Sprache umgehen - in der Ankündigung, alsbald „zusätzliche Quellenangaben im Buch [zu] ergänzen“. Abgesehen davon, dass es streng genommen ja eher darum geht, ein bislang fehlendes Verzeichnis erstmals zu inkludieren, ist es sicher richtig, sich als Verlag weder zu verteidigen noch die eigene Autorin zu kritisieren. Ersteres wäre angesichts der Sachlage nicht angebracht, und Letzteres gehört sich ohnehin nicht.

Vermutlich war die längere Sprachlosigkeit bei Ullstein dem Umstand geschuldet, dass man sich dort nicht im Traum hatte vorstellen können, mit welch laxer Einstellung eine potenzielle Bundeskanzlerin ein Buch nicht nur schreibt, sondern dann auch gegen berechtigte Kritik zu verteidigen versucht. Andere Verlage wiederum sind heilfroh, dass dieses Buch und seine Nachwirkungen an ihnen vorübergingen. Man bleibt, ganz nach dem Motto "Das hätte uns auch passieren können", gerne weiterhin solidarisch und deshalb medial in Deckung. Es spricht ja auch viel dafür, dass die GRÜNEN es zumindest in die Regierung schaffen und nicht ausgeschlossen ist, dass sie sich dann ihren Kritikern gegenüber als nachtragend erweisen könnten. So überrascht kaum, dass sich sogar Fernsehsender derzeit mit dem Wunsch nach O-Tönen zur Causa Baerbock von einer Verlags-Pressestelle nach der anderen durchhangeln und sich einen Korb nach dem anderen einhandeln. Auch Print-Medien beißen bei Verlagen auf Granit. Ein Schweizer Medium fragte reihum und allgemein „Was tun Verlage gegen das Problem mit Plagiaten?“. Unverfänglicher kann man sich der Causa Baerbock doch kaum nähern. Allein, vergebene Mühe, man musste die geplante Story fallen lassen, denn man hatte „nur Absagen“ bekommen. 

Um das Ausmaß des flächendeckenden Schweigens an einem weiteren Beispiel zu verdeutlichen: Selbst Jo Lendle, sonst sehr rührig in den sozialen Netzwerken, schweigt! Kein Tweet zu Baerbock/Habeck seit 19. April. Und auch damals, vom Baerbock-Buch war noch nichts zu ahnen, eher eine verspielte Hommage denn Kritik am damaligen Dream-Team, zwischen dessen Mitglieder ja noch vor Kurzem auch keine Buchseite zu passen schien.

Selbst Jo Lendle, sonst sehr rührig in den sozialen Netzwerken, schweigt!

Rainer Dresen

Von den beschriebenen Gründen taktischer Zurückhaltung abgesehen: Finden Sie das Schweigen der Branche richtig?

Ich persönlich bedauere das allgemeine Schweigen, denn unserer Branche sollte es doch gelingen, sich politisch neutral, aber eindeutig pro Urheberrecht zu positionieren, wenn die Zeiten danach sind. Schließlich geht es um unser aller Arbeits- und Existenzgrundlage. Die aktuelle Debatte sollte Anlass sein, im richtigen Tonfall, also ohne Häme oder parteipolitische Präferenzen oder Vereinnahmungen, der Öffentlichkeit den Nutzen einer gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz und Achtung des Urheberrechts aufzuzeigen. Es sollte jede Gelegenheit genutzt werden, klar zu machen, dass ohne ein allseits geachtetes und beachtetes Urheberrecht Hunderttausende von Kulturschaffende, darunter vermutlich kein geringer Teil potenzielle GRÜNEN-Wähler*innen, eher früher als später in existenzielle Nöte geraten werden.

Insgesamt wünschte man sich mehr politisches Verständnis für Urheberrechtsfragen. Ein paar Spezialisten argumentieren fundiert, aber die Mehrheit erachtet das Thema offenbar nicht als bedeutsam. Woran liegt das?

Früher war das Urheberrecht ein Gebiet für einige wenige Experten. Autoren und Verlage lebten in einträchtiger Koexistenz, Konflikte wurden möglichst einvernehmlich und leise auf Basis des Branchenkomments und einiger für Außenstehende ziemlich komplizierter Regeln und Bräuche gelöst. Mittlerweile sind wir ja alle irgendwie Urheber und wollen mitreden und teilhaben. Wie schon aufgezeigt, hat sich das Urheberrecht im digitalen Zeitalter deshalb rasch von einem Recht, das einigen Wenigen zum Nutzen aller exklusive Verwertungsmöglichkeiten bot und so erst den Anreiz zum Entstehen eines Werks schuf, zu etwas gewandelt, das allen die potenziell freie und kostenlose Nutzung fremder Inhalte ermöglichen soll.

Eine Idee, wie sich das ändern ließe?

Das Urheberrecht braucht eine Lobby. Keinesfalls ist es so, dass Werke irgendwie quasi von alleine entstehen und dann frei, beliebig und selbstverständlich kostenlos von allen genutzt werden können. Man bräuchte vielleicht mehr Urheber*innen, die erklären, wie sie arbeiten, wie ihre Werke entstehen und vor allem, welchen wichtigen Beitrag Verlage dabei leisten. Man müsste klarmachen, dass ohne ein funktionierendes, allseits geschätztes und geachtetes Urheberrecht, vielleicht auch ohne ein Leistungsschutzrecht für Verlage, künftig viel weniger Werke als bisher entstehen werden. Freie Teilhabe an nichts aber bringt schlussendlich niemandem etwas.