Sonntagsfrage

Kann ein Literaturfestival zum Verstehen des Kriegs beitragen, Frau Vandenrath?

10. Juli 2022
Redaktion Börsenblatt

Zum elften Mal fand Ende Juni, Anfang Juli in Frankfurt das biennale Literaturfestival literaTurm statt. Unter dem Thema "Risse" legte das Event einen Schwerpunkt auf die Literatur aus Ost- und Mitteleuropa. 2.800 Menschen kamen zu den Veranstaltungen, die meistenteils ausverkauft waren. Programmleiterin Sonja Vandenrath, im Kulturamt der Stadt verantwortlich für das Literaturreferat und desweiteren Leiterin von OPEN BOOKS und "Frankfurter Premieren", erläutert ihren Anspruch auf Aktualität und Relevanz.

Käme ich vom Marketing, wäre die Antwort: Ein Festival kann natürlich alles und damit auch dies. Ich komme jedoch von der Programmseite, die auf solche Fragen skrupulöser reagiert. Der Krieg in der Ukraine reißt uns für lange Zeit aus der Erfahrungsarmut an Gewaltgeschichte heraus und dies bis in kommende Generationen hinein, so Karl Schlögel auf einem Panel bei literaTurm in der vergangenen Woche. Kulturveranstalter:innen stehen seit dem Angriff auf die Ukraine vor einem Dilemma – business as usual als Ausdruck von Respekt vor dem Ausmaß der Brutalität. Oder die sich als immer unzureichend erweisenden Versuche, das zu verstehen, was sich jedem Verständnis entzieht. Ein Risiko ohne doppelten Boden, einen Blick in den Abgrund, getätigt in einem Land, in dem Frieden herrscht. Während wir hier sitzen, herrscht dort Krieg, so Katharina Raabe, eine der intimsten Kennerinnen osteuropäischer Literatur in einem Interview. Wir haben uns bei literaTurm 2022 für eine Art nachholender Wahrnehmung der disruptiven Prozesse in Mittel- und Osteuropa entschieden und gegen ein reines Ukrainefestival. Eine Alternative gab es nicht – weder bei dem Motto „Risse“, das bereits lange vor dem Krieg feststand, noch bei dem Format Festival. Als verdichtetes und zeitlich begrenztes Ausnahmeereignis ist es prädestiniert, ein Thema von Aktualität und Relevanz zu perspektivieren.

"Der Riss der Welt geht auch durch mich" schreibt etwa Siegfried Kracauer 1923 in einem Brief an Theodor W. Adorno und paraphrasiert damit Heinrich Heines Klage über die Zerrissenheit der Welt. Ein Topos, der bis zum Februar 2022 für ein eher diffuses Zeitgefühl stand, dem Corona ein wahrer Brandbeschleuniger war. Den tiefsten Riss aber markiert der russische Angriff auf die Ukraine. Er verwandelt eine zeitdiagnostische Metapher in eine bittere Realität. Ein Weckruf auch für uns. Wir konnten den Fokus unseres Programms neu ausrichten können und haben renommierte Autorinnen und Autoren aus der Ukraine, aus Belarus, aus Ungarn, Albanien, Polen und aus Russland nach Frankfurt, in die Mitte Westeuropas, eingeladen. Ihre Heimatländer lagen einst hinter dem Eisernen Vorhang. Sie wissen also um die Folgen eines radikalen Systemwechsel, dem 30 Jahre später dieser Zivilisationsbruch folgte, der nun ganz Europa erschüttert.

Literatur erkennt bereits im Haarriss die finale Zerreißprobe, die nun einen ganzen Kontinent erfasst.

Sonja Vandenrath

Und hier kommt die Antwort auf Ihre Frage; es ist nicht das Festival, das zum Verstehen des Krieges beiträgt, sondern die Literatur. Sie hat sei jeher ein besonders feines Sensorium für Disparates, für Verwerfungen und für Brüche und dies lang bevor sie manifest werden. Ja, sie ist eine Meisterin im Erspüren von seismischen Bewegungen tief unter der Oberfläche. Sie erkennt bereits im Haarriss die finale Zerreißprobe, die nun einen ganzen Kontinent erfasst. Und sie hat uns gewarnt, lange vor Putins Autokratismus und Expansionismus, die ihr eine reale Erfahrung waren. Wie dieser ultimative Spalt, den wir heute erleben, wieder zu kitten sein wird, weiß keiner. "Immer stehen Soldaten auf Posten, immer / Stehen und können nicht anders die Bäume, und immer / Liegen die Toten der Erde unter der Erde", so dichtet die russische Lyrikerin Maria Stepanova, die heute in Berlin lebt. Ihre Worte und die ihrer vielen großartigen Dichterkolleginnen und -kollegen seien die eigentliche Antwort auf die Frage.