Schwedische Akademie hat entschieden

Literaturnobelpreis 2023 geht an Jon Fosse

5. Oktober 2023
Redaktion Börsenblatt

Als der ständige Sekretär der Schwedischen Akademie die Flügeltür des Blauen Salons öffnete, war die Spannung am Siedepunkt: "Der Literaturnobelpreis 2023 geht an den norwegischen Autor Jon Fosse für seine innovativen Theaterstücke und Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben", verkündete Mats Malm in die Mikrofone der versammelten Presse. Update: Erste Reaktionen.

Jon Fosse

Jon Fosse wurde 1959 im norwegischen Haugesund geboren. "Sein immenses Werk, das in norwegischer Sprache (Nynorsk) verfasst wurde und eine Vielzahl von Genres umfasst, besteht aus einer Fülle von Theaterstücken, Romanen, Gedichtsammlungen, Essays, Kinderbüchern und Übersetzungen", führte Anders Olsson, Vorsitzender des Literaturnobelpreis-Kommitees, aus. "Heute ist er einer der meistgespielten Theaterautoren der Welt, aber auch seine Prosa findet zunehmend Anerkennung." Fosses opus magnum in drei Bänden sei die "Trilogie. Schlaflos, Olavs Träume, Abendmattigkeit" (in die deutsche Sprache übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel). Dafür hatte er 2015 den Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen bekommen, den renommiertesten Literaturpreis Skandinaviens. Stellvertretend für die anderen Mitglieder der Schwedischen Akademie lobte Olsson Fosses radikale Reduzierung von Sprache und wie er menschliche Orientierungslosigkeit  und Ängste in ihrem Kern thematisiere und den Zugang zu tieferen Erfahrungen ermögliche. Fosse hat auch ein beeindruckendes kinderliterarisches Werk geschrieben, "Schwester" (Bajazzo, illustriert von Aljoscha Blau), das 2007 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

In einem anschließenden kurzen Interview antwortete Olsson auf die Frage, wo die besondere Stärke von Fosse liege, dass Fosse den Leser einfach sehr stark berühre, dass er weite Bögen spanne und dass seine Texte universelle Bedeutung hätten, gleich ob in den Theaterstücken, in den Gedichten oder in seiner Prosa. Und mit welchem Text sollten Leser:innen, die Jon Fosse noch nicht kennen, am besten beginnen? "Er hat ja als Dramatiker begonnen, aber wenn man sich die Romane vornimmt, dann würde ich mit 'Morgen und Abend' anfangen, in Fosses Werk einzusteigen – das ist eine wundervolle kleine Erzählung über einen einfachen Fischer und das Thema Tod", riet Olsson. "Vermutlich hat es in den letzten Jahren kein traurigeres, aber zugleich auch kein fröhlicheres, tröstenderes Buch gegeben über den Morgen des Lebens und den Abend des Todes", hatte Elke Heidenreich bei Erscheinen der deutschen Übersetzung im Mai 2013 geschrieben. Fosses Werk ist in mehr als 40 Sprachen übertragen. Er ist auch als Übersetzer tätig und hat Werke von James Joyce, Samuel Beckett und Franz Kafka ins Norwegische übertragen.

Bibliografie

Jon Fosses Titel sind überwiegend bei Rowohlt erschienen, und auch bei Kleinheinrich und Mare. Rowohlt hat für den 18. Juni 2024 "Ein neuer Name. Heptalogie VI–VII" (Ü: Hinrich Schmidt-Henkel) angekündigt.

Lieferbare Bücher von Jon Fosse:

  • "Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt 2022, 368 S., 30 Euro 
  • "Kindheitsszenen". Prosa. Mit zahlreichen Holzschnitten von Olav Christopher Jenssen, Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Kleinheinrich 2019, 182 S., 40 Euro
  • "Der andere Name. Heptalogie I–II", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt 2019, 480 S., 34 Euro
  • "Trilogie. Schlaflos / Olavs Träume / Abendmattigkeit", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt 2016, 208 S., 19,95 Euro
  • "Die Nacht singt ihre Lieder und andere Stücke", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Tb. 2016, 304 S., 12,99 Euro
  • "Ich bin der Wind und andere Stücke", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Tb. 2016, 304 S., 12,99 Euro
  • "Diese unerklärliche Stille / Denne uforklarlege stille". Gedichte norwegisch-deutsch mit zahlreichen reproduzierten Radierungen, Ü: Olav Christopher Jenssen, Kleinheinrich 2015, 172 S., 40 Euro
  • "Schlaflos", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Tb. 2009, 80 S., 7,95 Euro
  • "Das ist Alise", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Tb. 2005, 116 S., 12 Euro
  • "Das ist Alise". Novelle, Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, mareverlag 2003, 120 S., 18 Euro
  • "Morgen und Abend"; Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Tb. 2003, 128 S., 12 Euro
  • "Traum im Herbst und andere Stücke", Ü: Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Tb. 2001, 320 S., 11,90 Euro

 

Lieferbare Hörbücher:

  • "Das ist Alise" (Hörkultur Verlag, 2022, 20 Euro)
  • "Ich ist ein anderer. Heptalogie III–V" (Hörkultur Verlag, 2022, 24,90 Euro)
  • "Der andere Name. Heptalogie I–II" (Hörkultur Verlag, 2020, 24,90 Euro)
  • "Winter" (Sprechtheater, 2005, UVP 16,80 Euro)

Reaktionen

"Ich bin überwältigt und dankbar. Ich sehe dies als eine Auszeichnung für die Literatur, die in erster Linie Literatur sein will, ohne andere Überlegungen", wird Jon Fosse auf der Website seines norwegischen Verlags Samlaget zitiert. Samlaget-Geschäftsführer Edmund Austigard kommentiert die Auszeichnung wie folgt: "Wir sind sehr stolz auf die Verleihung des Literaturnobelpreises an Fosse. Als sein Verlag Det Norske Samlaget hatten wir das Privileg, mit Jon Fosse seit seinem literarischen Debüt im Jahr 1983 zusammenzuarbeiten, und wir haben das bemerkenswerte Wachstum und die wachsende Anziehungskraft dieser produktiven Stimme miterlebt. Wir haben die Entwicklung eines Autors miterlebt, der sich nach einer soliden Präsenz als Romancier, Dichter und Kinderbuchautor dem Schreiben von Theaterstücken zuwandte und damit einen internationalen Durchbruch erzielte, der in der zeitgenössischen Literatur seinesgleichen sucht."

"Der Nobelpreis für Jon Fosse ist eine große Freude: Die Auszeichnung würdigt das literarische Schaffen eines Autors, dessen Werke die Welt mit Tiefe und Intensität berühren, die das Gewöhnliche außergewöhnlich erscheinen lassen und deren poetisch einfache Sprache zu Musik wird", sagt Rowohlt-Verlegerin Nicola Bartels.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth erklärt in einer Mitteilung: "Mit Jon Fosse ist einer der meistgespielten Theaterautoren der Welt ausgezeichnet worden. Der Literaturnobelpreis 2023 ist insofern auch eine sehr gute Nachricht für die Theaterszene, die davon sicherlich profitieren wird. Im Mittelpunkt seiner Dramen stehen häufig existenzielle philosophische Fragen, die menschliche Psyche und ihrer Abgründe sind auch in Jon Fosses Prosawerk und lyrischem Schaffen wichtige Themen. Seine knappe sparsame Sprache und sein wunderbar melancholischer Ton erzeugen einen einzigartigen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Der Nobelpreis wird Jon Fosse auch in Deutschland noch bekannter machen – und hoffentlich der gesamten skandinavischen Literatur hierzulande zu noch mehr Aufmerksamkeit verhelfen."

Preisverleihung:

Das Preisgeld beträgt in diesem Jahr 11 Millionen Schwedische Kronen (rund 950.000 Euro), eine Million mehr als in den vorigen Jahren. Die Auszeichnung wird am Nobelpreistag, den 10. Dezember, von Schwedens König Carl XVI. Gustaf in der Stockholmer Konzerthalle überreicht.

Wie wird der Literaturnobelpreis vergeben?

Schriftliche Vorschläge für den Preisträger, die Preisträgerin des Jahres müssen bis zum 31. Januar beim Nobel Committee der Schwedischen Akademie eingehen. Einem Vorschlag sollte eine Begründung beigefügt werden, muss aber nicht. Es ist nicht möglich, sich selbst als Kandidat oder Kandidatin vorzuschlagen, d. h. man kann sich nicht um den Nobelpreis bewerben. In der Regel gibt es jedes Jahr etwa 350 Vorschläge. Dem Nobel Committee gehören an: Anders Olsson (chair), Ellen Mattson, Steve Sem-Sandberg, Anne Swärd, Per Wästberg und Mats Malm (assoziiertes Mitglied; Ständiger Sekretär der Schwedischen Akademie).

Im Frühjahr prüft das Nobel Committee die Vorschläge und legt der Schwedischen Akademie im April eine vorläufige Kandidatenliste mit etwa 20 Namen zur Genehmigung vor. Vor der Sommerpause der Akademie wird die Liste in der Regel auf etwa fünf Namen reduziert. Im Oktober trifft die Akademie dann ihre Wahl. Damit die Wahl gültig ist, muss ein Kandidat / eine Kandidatin mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen der Schwedischen Akademie erhalten.

Die Schwedische Akademie hat 18 Mitglieder. Zwei Plätze – Stuhl Nr. 3 und Nr. 16 – sind derzeit nicht besetzt: Erst am 20. Dezember werden David Håkansson und Anna-Karin Palm für diese formell in die Akademie aufgenommen. Zur Liste der Akademie-Mitglieder geht es: hier.

Zahlen zum Literaturnobelpreis:

  • 116 Auszeichnungen wurden von 1901 bis 2023 vergeben. Siebenmal gab es keinen Literaturnobelpreis: 1914, 1918, 1935, 1940–1943. 2018 wurde die Preisvergabe ausgesetzt, ein Jahr später dann aber nachgeholt.
  • 4 Mal gab es zwei Preisträger*innen: 1904 (Frédéric Mistral, José Echegaray), 1917 (Karl Gjellerup, Henrik Pontoppidan), 1966 (Shmuel Agnon, Nelly Sachs) und 1974 (Eyvind Johnson, Harry Martinson)
  • 120 Personen haben bis 2023 einen Literaturnobelpreis erhalten: Liste der Preisträger:innen
  • 41 Jahre alt war der bislang jüngste Preisträger: Rudyard Kipling, der 1907 ausgezeichnet wurde.
  • 88 Jahre alt war die bislang älteste Preisträgerin: Doris Lessing, die 2007 ausgezeichnet wurde.
  • 17 Frauen erhielten bislang erst den Literaturnobelpreis – als erste Selma Lagerlöf 1909. Auf sie folgten: Grazia Deledda (1926), Sigrid Undset (1928), Pearl Buck (1938), Gabriela Mistral (1945), Nelly Sachs (1966; geteilter Preis, die andere Hälfte ging an Shmuel Yosef Agnon), Nadine Gordimer (1991), Toni Morrison (1993), Wislawa Szymborska (1996), Elfriede Jelinek (2004), Doris Lessing (2007), Herta Müller (2009), Alice Munro (2013), Svetlana Alexievich (2015), Olga Tokarczuk (2018), Louise Glück (2020) und Annie Ernaux (2022).
  • 2 Preisträger haben die Auszeichnung abgelehnt: Boris Pasternak 1958 ("Erst angenommen, dann von den Behörden seines Landes (Sowjetunion) veranlasst, den Preis abzulehnen") und Jean Paul Sartre 1964 (lehnte den Preis ab, weil er konsequent alle offiziellen Ehrungen abgelehnt hat).

(Quelle: https://www.nobelprize.org)